Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
kenne ich auch. Sie sind der Bürsten-Carlo.«
Der Mann in seinem staubigen, vielfach geflickten Anzug klatschte vor Begeisterung in die Hände. »Richtig! Du bist groß -worden, eine bezaubernde Nachtelfe, wenn ich das so sagen darf. Aber eins musst du mir verraten: Was sucht ein so hübsches Ding wie du zur Geisterstunde in diesem finsteren -mäuer?«
»Ich erforsche Nachtschwärmer. Haben Sie einen gesehen?«
»Motten?«
»Eher Wortklauber.«
»Nie -hört.«
»Aber da war einer genau über Ihnen!«
»-nau über mir?«
Pala seufzte. »Darf ich mir Ihr Gesicht ansehen?«
»Meine Sicht ansehen?«
Pala hätte nie gedacht, was für eine wichtige Rolle die schnöde Silbe »ge-« im zwischenmenschlichen Bereich spielte. Um weitere Missverständnisse auszuschließen, reichte sie dem Tippelbruder die Hand und sagte langsam und unter Aufbietung ihrer ganzen Geistesgegenwart: »Bitte stehen Sie auf, Carlo. In Ihrem Ge-… Auf Ihrer Haut hat Sie etwas gesto-… mit einem Stachel verletzt. Darf ich mir Ihr… den Bereich zwischen Stirn und Kinn einmal etwas ge-… gründlicher ansehen?«
Der Landstreicher brummte eine Bemerkung über die Besorgnis erregende Vernachlässigung des Sprechunterrichts in den hiesigen Schulen, wollte die freundliche Nachtelfe, die ihn dem Schlaf entrissen hatte, dann aber doch nicht enttäuschen.
Pala musste sich nicht einmal auf die Zehen stellen, um Bürsten-Carlos Gesicht wie eine empfindliche Blüte zwischen die Hände zu nehmen und es im Mondlicht einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Ihre Befürchtungen bestätigten sich leider. Die Haut auf der Stirn des Tippelbruders wies mehrere frische Wunden auf, nicht größer als der Stich mit einer Arztspritze. Damit waren für Pala alle Zweifel ausgeräumt. Der struppige Bürsten-Carlo besaß dieselben Saugmale, mit denen dereinst Nonno Gaspares Gesicht übersät war. Also gab es die Wortklauber aus dem alten Volksmärchen wirklich und sie, Pala, wusste nun auch, wie sie aussahen.
Nachdenklich wandte sie sich von dem Landstreicher ab und blickte an der Basilika vorbei zum Schlossgarten hinüber. In diese Richtung war der Wortklauber geflüchtet. Also musste er auch von dort geschickt worden sein.
»Ist es sehr schlimm? Wird sich der Stich entzünden?«, fragte der Vagabund, von der Schweigsamkeit des Mädchens beunruhigt.
»Das ist nichts. Jedenfalls nicht viel«, antwortete Pala, ohne ihn dabei anzusehen. Sie schüttelte nur ihren Kopf, der so schwer war von den Eindrücken dieser Nacht, der beunruhigenden Entdeckung hier im Kloster und dem furchtbaren Streit ihrer Eltern zu Hause. Wie allein und hilflos sie sich fühlte! Eine Träne rollte ihr über die Wange und sie sagte leise: »Die paar Stiche haben Sie schnell vergessen, Bürsten-Carlo. Beleidigungen fügen viel schlimmere Verletzungen zu. Schon ein Wort im Zorn reißt Wunden, die schlimm eitern.«
Ein Wort im Zorn reißt Wunden, die schlimm eitern,
verletzt sehr schnell, was lange braucht zum Heilen.
Wie Heimweh quillt, sobald davon wir eilen,
fehlt Kostbares erst dann uns, wenn wir scheitern.
Zum Himmel strebt der Narr auf Jakobsleitern,
doch leere Reden lassen ihn verweilen.
Selbst in Gefahr vor lauter Vorurteilen
hört er nicht hin, bleibt bei den Spaßbereitern.
So sprengt die Einfalt selbst die dicksten Ketten,
taktiert nur dumm, fühlt sich dabei noch schlauer,
treibt Freunde fort – wer kann zum Schluss noch retten?
Die Einsamkeit hat wohl die dickste Mauer,
dort darbt der Narr auf Bergen
von
Skeletten –
den Tod erfreut’s, der still liegt auf der Lauer.
Ein Wort im Zorn reißt Wunden, die schlimm eitern, habe ich zum Bürsten-Carlo gesagt, aber er hat mich genauso angesehen wie du jetzt, obwohl ihm doch nur eine winzig kleine Silbe fehlte.« Pala schüttelte traurig den Kopf und seufzte.
Nonno Gaspare sah sie mitfühlend an. Er hatte sich aufmerksam ihren Bericht über die aufregenden Ereignisse des vergangenen Tages angehört, obwohl kein einziges Wort zu seinem Verstand durchdrang. Doch der alte Geschichtenerzähler konnte die Sprache ihres Gesichts und ihres müden Körpers verstehen und allein diese Mitteilungen weckten seine Anteilnahme.
Solche stillen, bald in Gebärden, bald in Zeichnungen geführten Gespräche gaben Pala jedes Mal neuen Mut und frische Kraft, um sich gegen die beunruhigenden Entwicklungen in ihrer Umgebung anzustemmen. Gedankenaustausch bestand gar nicht so sehr aus pausenlosem Reden, wurde ihr in solchen
Weitere Kostenlose Bücher