Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
die kühle Nachtluft wenigstens eine Jacke überziehen sollen. Ihr Blick schweifte über den Platz. In einem Hauseingang lungerten dunkle Gestalten herum. Man munkelte in letzter Zeit immer öfter von brutalen Überfällen auf unbescholtene Bürger. Zitto wartete nur noch auf seine Wahl zum Stadtoberhaupt, dann, so versprach er vollmundig, werde er die »arbeitsscheuen Elemente von der Straße verbannen und die Sicherheit der Stadt mit eiserner Faust wiederherstellen«. So lange wollte Pala nicht warten und verdrückte sich unauffällig in die Schatten einer Nebengasse.
Wie schon vor vier Wochen schienen ihre Füße das Ziel des nächtlichen Marsches genau zu kennen, jene zerklüftete Ruine, deren Nähe schon genügte, das Mädchen erschauern zu lassen. Mit einem Mal war das Kloster da, still, geheimnisvoll, umhüllt von einem Schleier aus Schatten. Weder Landstreicher noch Zittos Kontrollgänger störten die Ruhe.
»Wer oder was ruft dich immer wieder hierher, Pala?« Sie schüttelte den Kopf. Es tat gut, an diesem Ort eine menschliche Stimme zu hören und wenn es nur die eigene war. Einen Moment lang stand sie unschlüssig vor dem großen Portal der Basilika. Sie musste an die Wortklauber denken, an Bürsten-Carlo, an eine Mauer, von der man in bodenlose Tiefen stürzen konnte. Und dann trat sie in den Kirchenraum.
»Warum klappern deine Zähne nicht, Pala?«, fragte sie sich laut und kicherte spöttisch. »Wenigstens deine Knie sollten schlottern, Pala.« Wieder das selbstquälerische Gelächter. Sie hatte ihre Eltern verloren, ihre Schwester, ihr Zuhause. Und ihre Stadt. Was konnte sie jetzt noch schrecken? »Den Tod erfreut’s, der still liegt auf der Lauer«, gluckste sie und näherte sich dem Durchgang hinter dem Altar.
Über ihr ragten hoch die finsteren Gebeine des einst von frommem Leben erfüllten Klosters auf. Der Himmel über dem Mittelschiff war sternenklar. Im runden Giebelfenster hing der Mond. Nachtschwärmer ließen sich keine blicken. Pala betrat den Kreuzgang.
Das Dornengestrüpp wucherte im Innenhof des Klosters etwas üppiger, aber sonst sah hier alles noch genauso aus wie in der Nacht nach Nonno Gaspares Verstummen. Ohne Hast, beinahe wie eine Museumsbesucherin, lief Pala den Säulengang entlang. Ihre flachen Riemchenschuhe berührten leicht die schweren Grabplatten silencianischer Honoratioren, verharrten sogar ab und an, wenn ein besonders prächtiges Wappen von der Größe des Dahingeschiedenen zeugte. »Wie vergänglich doch alles ist!«, flüsterte Pala und setzte ihren Weg fort. Hier und da wagte sich ein dorniger Zweig auf den geheiligten Grund, dem sie dann auswich, um ihre weißen Söckchen nicht zu zerreißen. Eher zufällig, so mochte es einem stillen Beobachter erscheinen, kam sie schließlich an der Mauerstelle beim Skriptorium zum Stehen.
Unliebsame Erinnerungen verfingen sich wie Treibgut im gaukelnden Netz ihrer Gedanken. Diesem Winkel bei der Schreibstube verdankte sie eine böse Erfahrung sowie eine nicht enden wollende Kette von Albträumen – fast jede Nacht stürzte sie mittlerweile in schwarze Bodenlosigkeit. Sie rieb und knetete ihre nackten Oberarme, um sich ein wenig Wärme zu verschaffen. Was würde sie jetzt erwarten?
Beim Erwachen am Morgen war die Welt für sie noch eine andere gewesen. Aber diese Nacht besaß etwas Einzigartiges, vergleichbar nur mit der Stunde, in der ein neuer Mensch unter Schmerzen geboren wird. Und deshalb fielen wohl auch ihre Ängste schon nach zwei oder drei Atemzügen von ihr ab, als habe es nie ein Früher gegeben. In dieser besonderen Nacht stand eine andere Pala vor Zittos Mauer. Vielleicht hatte alles so kommen müssen, um erst ihr wahres Ich ans Licht zu bringen. Sie blickte an dem Steinwall empor und flüsterte: »Heute werden wir sehen, wer der Stärkere von uns beiden ist.«
Pala reckte sich nach einem Vorsprung weit über ihrem Kopf und setzte gleichzeitig den linken Fuß in eine Spalte. In diesem Moment spürte sie etwas Schweres, Warmes auf ihrer Schulter…
Sie erstarrte bis ins Mark. Auf ihrer Brust lastete unvermittelt ein Druck, als hätte jemand eine der wuchtigen, kalten Grabplatten aus dem Säulengang darauf gelegt – fast unmöglich, noch zu atmen. Nur ihr Herz hämmerte wie verrückt. Jetzt hat dein letztes Stündlein geschlagen!, sagte jene Stimme, die sich in ihrem Kopf mal kühl, mal spöttisch, jedoch immer ungebeten zu Wort meldete, und kicherte schadenfroh. Sich in das offenbar Unvermeidliche fügend,
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