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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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harrte Pala nun des Bisses oder Stiches jenes Blut- oder Wortsaugers, der sie da mit festem Griff am Fliehen hinderte. Auch ein Schlag auf den Kopf hätte durchaus ihren Erwartungen entsprochen. Aber es sollte ganz anders kommen.
    »Ich kenne nur ein einziges Mädchen auf der Welt, das in Sommerkleid und Ballerinaschuhen an dieser Mauer emporklettern würde.«
    Pala glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Es musste ein Traum sein, aber keiner von der üblen Sorte, sondern ein wunderbarer, einer von jener glücklichen Art, in dem die Sonne nie unterging und Tränen der Trauer und des Leids nicht vorgesehen waren. Selbst nach so vielen Jahren hatte sie diese Stimme nicht vergessen. Ihre Finger glitten von der Mauer ab und sie landete in den starken Armen eines – selbst im Mondlicht unübersehbar – hübschen jungen Mannes.
    »Giuseppe!«, jauchzte sie und drückte dem Geschichtenerzähler einen dicken Kuss auf die Wange, so wie sie es früher immer getan hatte.
    Der lächelte etwas verlegen, nahm Palas Gesicht in seine großen, schlanken Hände, um es eingehend zu betrachten. »Dann habe ich mich also nicht getäuscht. Du bist es wirklich: mein kleines Schwesterchen.«
    »Du willst wohl sagen, die Klette, die du nie abschütteln konntest.« Pala lachte. In diesem Moment gab es für sie keine düsteren Gedanken, kein Verstoßen- und Alleinsein mehr. Sie fühlte nur Wärme, Glück und die unbeschreibliche Freude ihren »großen Bruder« wieder zu sehen. Mitten in der Nacht war die Sonne aufgegangen – was der Mond ihr nicht zeigen wollte, überstrahlten großzügig ihre hellen Erinnerungen. In diesem freundlichen Licht kostete sie genüsslich den wunderbaren Augenblick aus, betrachtete Giuseppe von Kopf bis Fuß, entdeckte Neues und freute sich über Vertrautes.
    Nonno Gaspares Nachgeborener war als Jüngling von zu Hause weggegangen und als Mann zurückgekehrt. Noch immer besaß sein lachendes Gesicht etwas Knabenhaftes. Es war eingerahmt von üppigen schwarzen Locken, erhellt durch lebendig funkelnde, blaue Augen, ins Gleichgewicht gebracht von einer schmalen langen Hakennase, zur Heiterkeit verpflichtet durch die vollen Lippen seines großen, am liebsten lachenden Mundes und fest gegründet auf einem runden Grübchenkinn. Gerade jetzt, im Zwielicht des Vollmondes, glich er auch figürlich seinem alten Vater. In den Schultern vielleicht etwas breiter geworden, war Giuseppe trotzdem noch derselbe große schlaksige Bursche, der mit seinem »Schwesterchen« an der Hand einst die verwunschenen Orte Silencias ausgekundschaftet hatte. Sich gegenseitig an den Händen haltend, standen die beiden lange unter dem Wandgedicht der Schreibstube und taten nichts weiter, als sich gegenseitig zu bestaunen.
    »Hübsch warst du ja schon immer«, brach endlich Giuseppe den Bann, »aber jetzt ist aus meiner kleinen Pala eine richtige Schönheit geworden. Dieser jungen Dame dürfte so mancher Luftikus auf der Straße hinterherpfeifen – ist es nicht so?«
    Pala wippte ganz eigenartig mit Oberkörper und Kopf, blickte mal zu den Sternen, dann wieder in Giuseppes strahlendes Gesicht und antwortete: »Das ist mir noch nicht aufgefallen und bis ich eine richtige Dame bin, wird noch einige Zeit vergehen.«
    Ihre Hände entglitten seinem Griff. Er schüttelte entschieden den Kopf. »Dann solltest du dich bei Gelegenheit einmal im Spiegel betrachten, Pala. Nicht mehr lang und die Heiratskandidaten werden an deiner Türe Schlange stehen.«
    Mit einem Mal schwand die heitere Stimmung aus Palas Gesicht und sie blickte traurig zu Boden. »Pasquale, der Junge aus der Nachbarschaft, hat mich bis vor kurzem mit Heiratsanträgen überschüttet, für eine ganze Schar von Bewerbern hätten die ausgereicht. Aber jetzt spricht er nicht mehr viel.«
    Giuseppe nickte mit ernster Miene. »Ich habe leider viel zu spät von der seltsamen Verflüchtigung der Worte erfahren. Hätte ich Silvestro nicht besucht – du erinnerst dich an ihn?«
    »Dein Bruder, der Theaterdirektor.«
    »Richtig. Er hat mir ausführlich von Vaters Sprachschwund und von den Veränderungen in Silencia berichtet. Ich mache mir große Vorwürfe, mich so lange nicht um meinen alten Herrn gekümmert zu haben. Nachdem ich mich mit ihm überworfen hatte, trieb mich ein Gedanke rastlos von Ort zu Ort: ›Du bist der letzte Geschichtenerzähler aus dem alten Geschlecht der Oratores‹, sagte ich mir immer wieder. ›Rette die Tradition. Bewahre die Märchen, Fabeln, Legenden, Sagen, Gedichte –

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