Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
und vielleicht ist es dir sogar gegeben, sie zu krönen…‹« Giuseppe schüttelte bekümmert sein Haupt. »Und dabei habe ich das Wichtigste aus den Augen verloren: die Liebe.«
Pala blickte verwundert in das Gesicht ihres Freundes.
»Ja, die Liebe«, bekräftigte der. »Kennst du nicht die Worte aus der Heiligen Schrift: ›Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen rede, aber nicht Liebe habe, bin ich ein tönendes Stück Erz oder eine schallende Zimbel geworden‹? Wie kann ich den Menschen Geschichten erzählen und ihnen die darin enthaltene Moral predigen, während der Hass in meiner Brust wohnt? Diese Frage hat mich nach Hause geführt, und als ich heute meinem Vater gegenübergestanden, seine Tränen gesehen und sein Schweigen wie eine laute Klage vernommen habe, da ging mir ein Stich durchs Herz.«
Unwillkürlich spürte auch Pala eine schmerzliche Enge in der Brust. Sie musste an ihr eigenes Ausreißen denken und konnte daher gut nachfühlen, was ihren Freund bewegte. »Du hast bemerkt, wie sehr du ihn in Wirklichkeit liebst, nicht wahr?«
Wieder nickte Giuseppe traurig. »Ja, woher weißt du…?«
Nun erzählte Pala ihre eigene Geschichte. Sie begann bei den schrecklichen Geschehnissen der letzten Nacht, sprang dann zu jenem Tag, als Nonno Gaspare die Sprache verloren hatte, und endete schließlich wieder in der Gegenwart. Zwischendurch versteckten die beiden sich in einem dunklen Winkel des halb zerfallenen Skriptoriums, weil draußen Schritte zu hören waren – vermutlich Zittos Posten auf ihrem Kontrollgang.
»Und deshalb muss ich in die Burg gelangen«, beschloss Pala ihren zuletzt sehr leise gesprochenen Bericht.
Giuseppe hüllte sich lange in nachdenkliches Schweigen, ehe er sagte: »Vielleicht findest du es seltsam, aber ich bin aus dem gleichen Grund hierher gekommen.«
»Du willst auch über die Mauer klettern?«, fragte Pala erstaunt.
Ein leises Lachen entrang sich ihm. »Nein, das ist deine Spezialität, Schwesterchen. Und jetzt, nachdem ich deine Geschichte kenne, würde ich diesen Weg schon zweimal nicht wagen. Aber du hast eben die Überlieferungen erwähnt, denen du mit deiner Lehrerin nachgegangen bist.«
»Ich wollte wissen, wer oder was den Menschen die Sprache raubt. Sag bloß, du kennst die alten Geschichten von den Wortklaubern?«
»Hör mal, du sprichst mit dem letzten amtierenden Geschichtenerzähler Silencias!« Giuseppe spielte recht überzeugend den Gekränkten.
»Ja, ja, schon gut. Was kannst du mir über die schwirrenden Unholde verraten?«
»Der Sage nach hat vor langer Zeit ein finsterer Geselle über Silencia geherrscht. Er habe kein Gewissen gehabt, heißt es, sei unbeschreiblich grausam und jederzeit zu einem Mord an unliebsamen Mitmenschen bereit gewesen. Man nannte ihn den Unaussprechlichen, wie er wirklich hieß, weiß niemand mehr. Ihm verdankt die Stadt ihren Namen: Silencia sollte in unterwürfigem Schweigen zu ihm als Fürsten aufblicken.«
Pala knirschte mit den Zähnen. Offenbar hatte Caterina Knüttelvers ihr genau diese Geschichte erzählen wollen. »Widerspruch unerwünscht – das kenne ich. Hatte der Unaussprechliche diesen Zug von seinem Vater geerbt?«
»Ganz im Gegenteil. Er kam keinesfalls als Adliger zur Welt, sondern als Sohn eines einfachen Hauptmannes. Berufen fühlte er sich allerdings zum König. Irgendwie gelangte er in den Besitz eines geheimen Wissens, durch das er große Macht über die Menschen errang.«
»Ich nehme an, jetzt beginnt der märchenhafte Teil der Sage.«
»In den meisten Überlieferungen steckt ein wahrer Kern, Pala.«
»Ja, ja, von Nonno Gaspare habe ich das schon hundertmal gehört. Was für Kenntnisse hat dieser Unaussprechliche denn gewonnen?«
»Er konnte den Menschen ihre Worte abkaufen.«
Palas Mund blieb offen stehen.
»Jetzt staunst du, nicht wahr?«, fragte Giuseppe in die Dunkelheit.
»Und ob! Über diese Möglichkeit habe ich erst unlängst mit deinem Vater gesprochen – allerdings ging es da um Zitto.«
»Was wohl kein Zufall war. Im Hinblick auf die geschäftlichen Gepflogenheiten des Unaussprechlichen sind die Überlieferungen leider nicht sehr genau. Von mehreren alten Leuten habe ich unterschiedliche Fassungen der Geschichte gehört. Allen gemein ist eine Regel, gewissermaßen ein Gesetz, dem sich sogar unser namenloser Schurke hatte beugen müssen: Je fester jemand an seinem Wortschatz hing, desto höher war der Preis, den der Fürst dafür zahlen musste. Am billigsten konnte er Ausdrücke
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