Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
einheimsen, die nicht mehr benutzt wurden. An dieser Stelle kommen die Wortklauber ins Spiel.«
»Er hat die kleinen Unholde auf Menschen gehetzt, damit sie ihnen die Sprache tröpfchenweise aussaugen – habe ich Recht?«
»So ungefähr. Worte bedeuten Macht. Mit ihnen kann man vielleicht nicht alles erreichen, aber ohne sie ist alles nichts. Sie sind wie das Lampenöl, das die Flamme der zwischenmenschlichen Beziehungen nährt. Wenn es ausgeht, brennt der Docht zwar noch für kurze Zeit weiter, aber dann nimmt die Leuchtkraft schnell ab, bis das Licht schließlich ganz erlischt.«
»Und in der Dunkelheit kann man sich leicht verlaufen.«
»Das ist wahr, Pala. Wer nie widerspricht, wird leicht zum Leibeigenen eines anderen. Aber sich gedankenlos gegen alles zu sträuben, ist genauso schädlich. Solche Menschen sind zu keiner Übereinkunft bereit, weil sie verlernt haben, wie eine solche auszuhandeln ist. Worte sind die Grundlage jeder Einigung. Man braucht sie zum Zuhören, Nachdenken und zur Verteidigung der Wahrheit.«
»Langsam begreife ich, warum man den Unaussprechlichen gerade so und nicht anders genannt hat.«
»Zum Glück waren seine Kräfte nicht unbegrenzt. Der eigene Bruder, sagt die Überlieferung, habe ihm das Handwerk gelegt, weil die finsteren Mächte sich bei Blutsverwandten als – wie soll ich das ausdrücken? – schwierig erwiesen.«
»Das musst du genauer erklären.«
»Würde ich es selbst richtig begreifen, wäre mir wohler. Offenbar konnte der Unaussprechliche mithilfe einer bestimmten Formel, einer Dichtung oder eines Liedes, sogar seinem Vater den Wortschatz rauben, wiewohl der seinem ungeratenen Sohn lange die Stirn geboten hatte…«
»Und doch war es dann ausgerechnet sein Bruder, der seine Macht wieder brach«, fügte Pala allmählich begreifend hinzu. »Wie hat er das geschafft?«
»Das ist unklar. Irgendwie muss das besagte Gedicht oder Lied den Schlüssel bergen. Wer es besitzt, heißt es, kann die Worte lenken.«
»Eine ziemlich schwammige Erklärung, finde ich.«
»Hör dir erst das Ende der Geschichte an.«
»Ich ahne Schlimmes.«
»Und das zu Recht. Die Wortklauber lockte man in einen Hinterhalt und tötete sie allesamt. Der Unaussprechliche selbst wurde dem Henker übergeben. Auf dem Schafott, kurz bevor er seinen Kopf verlor, sprach der grausame Herrscher noch eine düstere Prophezeiung aus. Sein Geheimwissen, drohte er, werde weiterleben und eines Tages von einem anderen gefunden werden…«
»Und der kam dann auch, luchste allen Menschen die Worte ab, um hinfort grausam über sie zu herrschen. Eine Zeit der Finsternis brach an, und wenn Zitto nicht gestorben ist, dann schweigt er heute noch.«
»Du solltest bei mir als Geschichtenerzählerin in die Lehre gehen.«
»Vielleicht muss ich das sogar«, murmelte Pala und wurde von einer neuen Welle der Verzweiflung erfasst. Ihre Tränen waren noch lange nicht erschöpft. Verräterisch laut schluchzte sie: »Ich wünschte, ich wäre nie geboren!«
Giuseppe nahm sie in den Arm und tätschelte ihren Rücken. »Ich kann dich gut verstehen, Schwesterchen. Vor gar nicht so langer Zeit gingen mir ähnliche Gedanken durch den Kopf.«
Pala befreite sich wieder aus seiner Umklammerung und versuchte in der Dunkelheit des Skriptoriums seine Augen zu finden. »Und was hat sich seitdem geändert?«
»Lass mich dir mit einem Gedicht antworten. Bis vor kurzem stand es an der Mauer der Universität von Silencia – vielleicht kennst du es sogar. Es stammt von einem meiner Vorfahren. Als ich heute einen Professor besuchen wollte, um mich mit ihm über die seltsame Verflüchtigung der Worte zu unterhalten, waren die Verse mit einem Schild verhängt. Darauf stand der Spruch ›Lernen macht reich‹. Die Inschrift ist eine Spende Zittos.«
»Hättest du nicht zu erwähnen brauchen. Und das Gedicht? Wieso glaubst du, kann es mir helfen?«
»Nun, das finde am besten selbst heraus, indem du es dir anhörst. Es ist übrigens ein Sonett, falls dir das etwas sagt, und lautet so:
Den Tod erfreut’s, der still liegt auf der Lauer,
wenn Lebensangst zerfrisst deren Gebeine,
die missverstanden lässt man ganz alleine,
in Abgeschiedenheit und tiefer Trauer.
Dies Pesthaus hat wohl andere Erbauer
als jene, die dort liegen an der Leine.
Mit ihrem Hass sie kommen nicht ins Reine,
er fesselt sie an die Gefängnismauer.
Ganz wenigen gelingt es, zu entkommen,
zu finden Schutz als Gleiche unter Gleichen
im Kreis von Freunden,
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