Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Säulen und Bögen hier kann sich schnell ein Echo verfangen und dir alles Mögliche vorgaukeln. Jetzt komm endlich, mir gefällt dieser Ort nicht.«
Es entstand eine kurze Pause. Dann: »Wahrscheinlich habe ich mir das wirklich nur eingebildet. Also lass uns gehen, sonst kommen wir noch zu spät zum Wachwechsel und müssen wieder einen seitenlangen Bericht ausfüllen.«
Die Stimmen entfernten sich. Pala atmete auf. Einige Atemzüge später hörte sie ein kratzendes Geräusch und eine gelbe Flamme blendete sie.
Giuseppe hielt ein Streichholz in der Hand. Sein Gesicht sah besorgt aus. »Alles in Ordnung?«
»Mein Ellenbogen ist aufgeschrammt. Da, es blutet sogar.«
»Autsch! Ich habe mir die Finger verbrannt.« Schlagartig wurde es wieder dunkel.
Pala hörte Schritte, die sich auf der Treppe vorsichtig zu ihr hinabtasteten, dann wurde ein neues Streichholz angerissen. Giuseppe hielt ein Taschentuch in der anderen Hand.
»Lass mich die Wunde abtupfen. Vielleicht finden wir weiter unten auch Wasser, damit wir sie säubern können. Ich wünschte nur… Au!«
»Was ist denn jetzt schon wieder?«
»Ich hab mir den nächsten Finger verbrannt.«
»War das dein letztes Streichholz?«
Es zischte und eine neue Flamme leuchtete auf. »Nein.«
»Warte! Ehe du deine Kleider in Brand steckst…« Pala drehte sich zu dem Hebel um, mit dem sie den Altardeckel geschlossen hatte. Er befand sich oberhalb einer kleinen Nische, in der vier oder fünf Kerzen lagen. Weitere konnte sie auf den Treppenstufen entdecken, vermutlich von ihr selbst heruntergerissen. Sie nahm die Talglichter aus der Nische und reichte sie ihrem Freund. »Nimm die da. Ist gesünder für die Haut. Hoffentlich kriegst du sie an, es ist ziemlich feucht hier unten.«
»Wenn der Docht sich richtig mit Unschlitt voll gesogen hat, dürfte die Nässe ihm nicht… Na, bitte! Wer sagts denn?« Leichter als erwartet hatte Giuseppe die Kerze entzündet. Die übrigen steckte er in die Hosentasche. Nachdem er vom Boden noch weitere Lichter aufgesammelt hatte, lächelte er sein knabenhaftes, leicht schiefes Lächeln und sagte: »Jetzt lass mich aber erst einmal deine Wunde untersuchen…«
Pala entzog ihm ihren Arm. »Das hat Zeit bis später. Mir wäre es lieber, wir würden so schnell wie möglich wieder hier herauskommen.«
Giuseppe wollte zuerst widersprechen, zuckte dann aber die Achseln und sagte: »Also gut. Wollen doch mal sehen, wohin es uns hier verschlagen hat.«
Er hob die Kerze über den Kopf und bewegte ihren gelben Lichtkreis mal hier-, dann wieder dorthin. Sie standen auf einem Treppenabsatz. Über ihnen lagen die wenigen Stufen, die zum Altareingang führten. In der entgegengesetzten Richtung konnten ihre Blicke dem schräg in die Tiefe führenden Niedergang nur ein Stück weit folgen, dann verschluckte ein schwarzer Schlund alles Licht.
»Lass mich am besten vorangehen und du bleibst dicht hinter mir«, sagte Giuseppe, drückte sich an Pala vorbei und machte sich an den Abstieg. Rasch lief sie ihm hinterher.
Der Geheimgang war sauber ausgemauert, zwar schmal, aber mit seiner gewölbten Decke hoch genug, um selbst dem Kopf des langen Giuseppe Platz zu bieten. An einigen Stellen rann Wasser die Wände hinab. Palas Nase wollte sich einfach nicht an den modrigen Geruch gewöhnen, der aus der Tiefe strömte. Dieser Tunnel gefiel ihr nicht.
»Da vorn ist ein größerer Raum, vielleicht auch eine Höhle«, sagte Giuseppe, ohne sich zu ihr umzuwenden.
Wenig später sah sie es selbst: Die Treppe mündete in einen steinernen Steg, einer Brücke gleich, die sich schnell in schwarzer Leere verlor. Der brüchige Ziegelsteinweg war gut zwei Schritte breit. Damit erschöpften sich seine Vorzüge aber auch schon. Es gab weder ein Geländer, noch ließen sich irgendwelche Stützpfeiler erkennen – der unterirdische Freiluftpfad schien im Nichts zu schweben. Unschlüssig sahen sich Pala und Giuseppe um. Auch die Höhe, Tiefe und Breite der Felswand, an der die Brücke verankert war, ließ sich mit Blicken nicht ermessen.
»Es gibt nur zwei Möglichkeiten«, sagte Giuseppe endlich mit belegter Stimme.
Pala musste einen dicken Kloß hinunterschlucken, bevor sie antworten konnte. »In zwei Tagen lässt sich Zitto zum Stadtoberhaupt wählen. Wenn wir jetzt umkehren, wird ihm vielleicht nie wieder jemand die Stirn bieten.«
»Du bist mutig, Schwesterchen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich vertraue nur dem alten Gedicht: Die Offenheit lässt den Verschwörer
Weitere Kostenlose Bücher