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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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weichen.« Pala deutete mit einer ausholenden Geste auf die unauslotbare Schwärze jenseits des Brückenpfades. »Da ist sie, die Offenheit – oder kannst du irgendwo eine Grenze sehen? Sie wird uns zum Erfolg führen, wenn wir nur unsere Furcht überwinden.«
    Giuseppe gestattete sich ein tiefes Atemholen. Dann nickte er. »Also gut. Dann wollen wir mal.«
    Langsam traten sie auf den schwebenden Pfad hinaus, umgeben von einer Kugel aus gelbem Licht. Jenseits davon gab es nur Finsternis.
    Und neue Stufen.
    Ratlosigkeit pendelte einen Augenblick lang zwischen den beiden Höhlenwanderern hin und her. Sie waren bisher kaum einen Steinwurf weit gegangen und jetzt diese neue Schikane: Der Weg gabelte sich wie ein großes Y in zwei abwärts führende Treppen. Anders als die hinter ihnen liegende Tunnelstiege war diese hier aber nur eine etwas kantiger geformte Ausführung des Freiluftpfades. Auch hier mangelte es an Geländern und auch hier konnte man unter den schräg angewinkelten Niedergängen keine tragenden Säulen ausmachen. Pala war Linkshänderin, möglicherweise deutete sie deshalb nicht nach rechts.
    Ehe das Paar sich dem unbekannten Stufengang anvertraute, entzündete Giuseppe eine zweite Kerze und stellte sie am linken Rand der Verzweigung auf. Im Knien schickte er ein schiefes Lächeln zu Pala hinauf. »Anstelle eines Bindfadens.« Seine Stimme entschwand im Nichts, kein Echo kehrte zurück.
    In Pala rührte sich eine schlimme Ahnung. Sie hob ein abgebrochenes Stück Backstein von der Brücke auf und ließ es neben der Kerze in die Tiefe fallen. Giuseppe, am Boden kniend, legte den Kopf schräg, sein Ohr sank immer tiefer, als wolle es den Stein verfolgen. Auch Pala lauschte und lauschte und lauschte… Als nach einer beunruhigend langen Zeit immer noch kein Aufprall zu hören war, sagte sie aus zugeschnürter Kehle: »Ich hoffe nur, dein ›Bindfaden‹ hält lang genug, um uns den Rückweg zu zeigen.«
    Stetig ging es nun weiter abwärts. Wie ein Leuchtturm in nächtlicher See flackerte das kleine Talglicht bald in weiter Ferne hoch über ihnen. Das schwebende Treppenband wollte kein Ende nehmen. Die Unermesslichkeit der Höhle verwandelte sich für Pala allmählich in ein schwarzes Tuch, das sie mit jedem Schritt fester zu umschlingen und ihr den Atem zu rauben schien. Die sonst so bewährte Methode, sich durch lautes Geplapper Mut zu machen, schlug hier ins Gegenteil um, weil sie den echolosen Klang ihrer eigenen Stimme nicht ertragen konnte. Ohne das weit entfernte Plätschern zu ihren Füßen hätte sie womöglich ihren Verstand verloren. Als die beiden auf eine neue Verzweigung stießen und damit eine weitere Wahl treffen mussten, kam ihr diese Herausforderung somit durchaus gelegen.
    In Form eines großen T führten die Stufen rechts wieder nach oben und auf der anderen Seite weiter in die Tiefe. Pala blieb ihrer Linkshändigkeit treu und nachdem Giuseppe eine zweite Kerze entzündet hatte, setzten sie ihren Abstieg fort.
    Alsbald forderte eine Treppenkreuzung ihre Entscheidungsfreudigkeit heraus. Der nächste Kerzendocht erglimmte und Pala entschied sich für rechts (alle anderen Stiegen führten nach oben).
    Allmählich verlor sie jedes Gefühl für die Zeit. Sie führte Giuseppe immer tiefer in dieses unheimliche Labyrinth aus schwebenden Treppen. Schnell war sein kleiner Vorrat an Kerzen aufgezehrt und glühte bald nur noch wie ein fernes Sternbild weit über ihnen. Das Zählen der Abzweigungen hatte Pala längst aufgegeben, aber es mochten dutzende gewesen sein – oder gar schon hunderte? Gelegentlich konnte sie über oder unter sich Abschnitte anderer Stufenpfade entdecken, kreuz und quer hingen sie in der Luft. Immer stärker musste sie gegen die Befürchtung ankämpfen, diesem Wirrwarr aus Treppen und Stegen nie mehr zu entkommen. Aus der Schwärze jenseits des gemauerten Pfades tauchten Bilder vor ihr auf, Spiegelungen ihres Albtraumes, die nicht wirklich waren. Nie hätte sie sich etwas Schlimmeres als einen Sturz in bodenlose Tiefe vorstellen können, aber nun erlebte sie ein sehr viel größeres Grauen. Vielleicht fühlte Giuseppe Ähnliches, denn plötzlich schreckte er sie mit einer, wie sie meinte, gänzlich überflüssigen Bemerkung auf.
    »Unter uns muss sich eine Quelle oder ein unterirdischer Flusslauf befinden. Vielleicht wird der Deckelmechanismus in dem Altar sogar mit Wasserkraft bewegt. Andererseits kann ich mir eine so lange Antriebswelle kaum…«
    »Das ist mir ziemlich

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