Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
die einander frommen.
Verborgen still sie harren unter Eichen.
Wird Bruderliebe von dort mitgenommen,
die Offenheit lässt den Verschwörer weichen.
Hast du bemerkt, worauf ich hinaus will, Pala? Gerade die beiden Terzette, die dreizeiligen Strophen am Ende des Sonetts, geben dir die Antwort auf deine Frage.«
»Ja«, antwortete Pala leise, »ich verstehe, was du meinst. Gerade eben konnte ich ihn fühlen, diesen ›Schutz als Gleiche unter Gleichen‹, auch wenn wir beide nur einen sehr kleinen Freundeskreis abgeben.« Sie lächelte, zwar etwas gequält, aber Giuseppe konnte es in der Dunkelheit ohnehin nicht sehen.
»Eine doppelte Schnur hält besser – jetzt bin ich hier, Pala. Genau wie das Gedicht es sagt, haben wir uns unter freiem Himmel getroffen. Wenn wir von nun an zusammenhalten wie Geschwister, dann können wir den Verschwörer, der hinter dieser seltsamen Verflüchtigung der Worte steckt, zum Zurückweichen zwingen.«
Pala dachte einen Moment lang über Giuseppes Worte nach. Mit nichts anderem als dem alten Gedicht hätte er treffender ausdrücken können, was sie empfand, diese Wärme und Geborgenheit, die für den Augenblick alle Hoffnungslosigkeit vertrieben hatte. Das Wort »Bruderliebe« gewann für sie einen wirklichen Sinn, hier, auf dem staubigen Boden einer verlassenen Klosterschreibstube, an der Seite dieses großen lockenköpfigen Jungen im Körper eines Mannes. Ein paar ruhige Herzschläge später fragte sie sichtlich aufgeräumter: »Und wie willst du in den Schlossgarten kommen, wenn die Mauer da draußen von vornherein ausscheidet?«
»Das ist ein Rätsel und wir beide müssen es lösen.«
»Klingt viel versprechend.«
»Wer hat früher hier gelebt?«
»Fromme Schwestern.«
»Richtig, dies war ein Nonnenkloster. Ich kenne solche Anlagen von vielen Orten auf der Welt und fast immer haben sie etwas gemein.«
»Geheimgänge!«, hauchte Pala. Die Einsicht überraschte sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Fast ebenso schnell kamen ihr jedoch Bedenken. »Silencia war früher
für seine Offenheit im Reden und im Denken bekannt. Auf so einem Boden gedeihen Heimlichkeiten schlecht. Wenn das Kloster in diesem Geist entworfen wurde, dann können wir ewig suchen und werden trotzdem keinen…«
»Auch hier gab es Geheimnisse«, fiel Giuseppe ihr ins Wort. »Ich gehe einem Mundwerk nach, das auf jahrhundertealter Überlieferung gegründet ist. Viele Geschichten habe ich von meinem Vater geerbt. Einige drehen sich auch um dieses Kloster und die Zitadelle von Silencia. Um den Eingang zum Geheimgang zu finden, müssen wir den Sinn eines Denkspruches ergründen.«
»Mach’s nicht so spannend, Giuseppe.«
»Das Rätsel lautet: ›Gott verwandelt jede deiner Opfergaben in einen Stein für den Tag, da du in den Sumpf der Not gerätst. Aus deinen aufrichtigen Spenden baut er dir einen rettenden Pfad, die berechnend dargebrachten hängt er dir um den Hals.‹«
»Dieser Spruch soll uns den Weg in Zittos Reich weisen? Bist du dir da ganz sicher?«, kicherte Pala.
»Ziemlich. Er wird im Zusammenhang mit einer Oberin gebraucht, die aus dem Kloster fliehen konnte, während bewaffnete Schänder die Eingänge gestürmt haben. Was ist mit dir los? Du klingst so fröhlich.«
»Und ob! Ich weiß nämlich, wo dein versteckter Eingang liegt.«
»Was sagst du da!?«
»Unter dem Altar in der eingestürzten Kirche.«
Pala hörte ein Klatschen, wie wenn sich jemand mit der flachen Hand kräftig an die Stirn schlägt. »Natürlich!«, tönte Giuseppes Stimme aus der Dunkelheit. »Wo bringt man Gott Opfer dar? Auf einem Altar. Ich hätte wirklich selbst darauf kommen müssen. Du bist eine geschickte Rätsellöserin, Pala.«
»Das war nicht schwer«, gluckste die. »Gegen ein windgeschütztes Örtchen hätte ich jetzt nichts einzuwenden – es ist bitterkalt hier. Komm, sehen wir uns die Pforte ins Reich der Unterwelt einmal genauer an.«
Gemeinsam verließen sie das finstere Skriptorium, schlichen durch die Kolonnaden des Kreuzgangs und betraten den großen Hauptraum der Basilika. Hier draußen mussten sie vorsichtig sein, um nicht Zittos Kontrollgängern in die Arme zu laufen. Vor dem Altar blieb das Paar stehen. Der grauweiße Opfertisch hatte die Form eines rechteckigen Klotzes, doppelt so breit wie tief, mit einer dicken Platte obenauf. Darunter, vor Jahrhunderten von einem Steinmetz aus dem hellen Marmor gemeißelt, befand sich eine Inschrift. Giuseppe starrte überrascht auf die
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