Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
erhabenen Buchstaben.
»Aber da steht ja…« Sein Raunen versiegte und er schüttelte nur noch verdattert den Kopf.
»›Gott verwandelt jedes deiner Opfer in einen Stein‹ und so weiter und so fort.« Pala schmunzelte zufrieden. »Ich schlage vor, du schiebst die Altarplatte zur Seite. Dann werden wir ja sehen, wie es um das steinerne Versprechen bestellt ist.«
Giuseppe spuckte in die Hände und machte sich an die Arbeit. Er packte eine Ecke der Marmorplatte und versuchte sie anzuheben. Nichts geschah. Hierauf verlegte er sich aufs Schieben. Auch jetzt rührte sich der Deckel nicht.
»Ich fürchte, wir brauchen einen Ringkämpfer und keinen Geschichtenerzähler für diese Arbeit«, keuchte er.
Pala hatte ihm die ganze Zeit über stirnrunzelnd zugesehen. Jetzt fragte sie leise: »Haben Nonnen früher gerungen?«
Giuseppe ließ augenblicklich von der Platte ab und sah sie verwundert an. »Höchstens um die Anerkennung ihres Herrn. Worauf willst du hinaus?«
»Wenn die Geschichte von der Äbtissin nicht nur ein Märchen ist, dann wird sie wohl kaum eine so schwere Marmorplatte hochgestemmt haben.«
»Du hast Recht. Vielleicht hat sich die Deckplatte ja über die Jahrhunderte festgefressen, aber selbst im Neuzustand dürfte sie für eine Klosterfrau zu schwer gewesen sein. Vermutlich gibt es irgendeinen versteckten Mechanismus, der den Opfertisch öffnet.«
Pala betrachtete schon seit einiger Zeit nachdenklich die Inschrift an der ihr zugewandten Längsseite des Altars. »Jetzt haben wir es mit einem richtigen Rätsel zu tun«, murmelte sie und drehte dabei eine Locke ihres schwarzen Haars um den Zeigefinger.
»Ja und es lautet: Wie bekommen wir diesen dämlichen Deckel auf?«
Pala lachte leise. »Anscheinend ist das Rätsellösen nicht gerade deine Stärke. Nein, die Frage muss heißen: Welches Wort in dieser steinernen Inschrift ist das wichtigste?«
Der Erzähler blickte ohne rechte Leidenschaft auf den Sinnspruch und zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Wie wär’s mit ›Gott‹? Er ist schließlich der Allmächtige.«
»Also kann er auch Steinplatten stemmen?« Pala unterdrückte ein Lachen. »Lustiger Einfall. Na ja, in einem Kloster würden vermutlich die meisten so antworten. Ich glaube aber, der Schlüssel, den wir suchen, liegt in dem Spruch selbst, in der Lehre, die er uns vermitteln will.«
»Da bin ich aber gespannt.«
»Sind große Opfer auch ein Beweis für große Gottergebenheit?«
»Nicht unbedingt. Manche wollen durch ihre reichen Gaben nur vor ihren Mitmenschen glänzen. Vielleicht glauben sie nicht einmal an Gott.«
Pala nickte. »Das stimmt. Unsere Familie war neulich auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung Zittos. Was glaubst du, wie viel Geld manche Leute da gespendet haben! Dafür ließen sie sich dann beklatschen und bejubeln und auf die Schultern klopfen. Anschließend schluckten sie fässerweise Perlwein, schaufelten die feinsten Delikatessen in sich hinein und redeten endlos lauter kariertes Zeug – nur über die Bedürftigen und ihre Sorgen verlor keiner mehr ein Wort. Es würde mich nicht wundern, wenn so mancher edle Spender sich schon morgen für seinen Zaster die Untaten irgendeines Schurken kauft, weil er sich davon einen größeren Vorteil verspricht. Ob Gott solchen Zeitgenossen Wege pflastert? Also, ich kann mir das nicht vorstellen.« Sie sah wieder auf die erhabenen Buchstaben des Altars. »Die Frage lautet somit: Worauf kommt es wirklich an?«
Giuseppe folgte ihrem Blick. Mit einem Mal schien sein Gesicht das Mondlicht doppelt so hell widerzustrahlen. »Ich hab es! Die Aufrichtigkeit ist das Wichtigste. Damit geht der Deckel richtig auf – warum ist mir dieses Wortspiel nicht schon früher aufgefallen?«
»Gute Frage! Du hättest nur an das Gedicht deines Vorfahren zu denken brauchen.« Pala deutete erwartungsvoll auf den Altar. »Wenn wir diese Pforte dort aufkriegen, dann erfüllt sich die alte Weisheit vielleicht in doppeltem Sinn, denn nur die Offenheit lässt den Verschwörer weichen.«
Die Offenheit lässt den Verschwörer weichen,
verkriechen sich in finsteren Verstecken,
um schlimmre Hinterlisten auszuhecken
und Beistand sich zu suchen bei den Reichen.
Gewinnsucht wie auch Machtgier und dergleichen
verführt die Schwächlinge zum Speichellecken.
Des Schweigens Mantel über Unrecht decken,
rangiert für sie nur unter Schelmenstreichen.
Mit Günstlingen nicht laut im Chor zu singen
noch gierig nach des Armen Brot zu
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