Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
Grenzen setzt, der wird zwangsläufig irgendwann diese Erfahrung machen. Gaspares Zuhörerschaft wurde immer kleiner. Ausgerechnet in dieser Zeit kam ich zu ihm und sagte, ich wolle in seine Fußstapfen treten. Man müsse ja nicht unablässig Neues bringen. Vollendung erreicht nur der, der Bewährtes mit Geduld in tausend kleinen Schritten verbessert. Vater wollte nichts davon wissen. ›Du würdest lieber alle Brücken hinter dir abbrechen, als einen unebenen Weg zweimal zu gehen‹, warf ich ihm vor. Er seufzte nur und schüttelte traurig den Kopf.«
    »Und was geschah dann?«
    »Er schwieg. Ich warf ihm Altersstarrsinn vor und beschloss bei der nächstbesten Gelegenheit von zu Hause wegzulaufen. Kurz darauf stellte er die Suche nach den vollkommenen Worten ein und gab seinen Beruf auf. Nein, ich glaube, er hat sich selbst aufgegeben. Enttäuscht zog er sich in sein Schneckenhaus zurück, um hinfort in einer Traumwelt weiterzuleben, in der sein Publikum allein aus Kindern bestand, aus Menschen also, für die alles neu, alles wunderbar ist. Nachdem er mir seinen Segen verweigert hatte, verließ ich Silencia ohne ein letztes Lebewohl.«
    »Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie du ihm deine pfefferscharfen Überlegungen schonungslos unter die Nase gerieben hast: Er sei ein starrköpfiger alter Narr und du würdest in Zukunft natürlich alles viel besser machen. Hat es sich ungefähr so angehört?«
    »Man könnte glauben, du wärst dabei gewesen.«
    Pala schüttelte aufgebracht den Kopf. »Wenigstens ist mir jetzt klar, warum ihr euch gestritten habt. Hättest du nicht etwas geschickter vorgehen können? Er wollte dich bestimmt nur vor den schlimmen Erfahrungen schützen, die er selbst durchmachen musste.«
    »Allmählich wird mir das klar, Pala. Aber damals redete er nur über meine Zukunft, die Schwierigkeiten, eine Familie zu ernähren und das Aussterben unseres Berufes. Natürlich widersprach ich ihm. Das Geschichtenerzählen sei ein Mundwerk, das eine goldene Zunge hat, wie das Sprichwort sagt. Ich hielt seine Warnungen für reines Selbstmitleid, und das habe ich diesem alten Sturkopf auch ins Gesicht gesagt.«
    »Ha!«, lachte Pala und sah zugleich richtig wütend aus. »Du bist doch selbst ein Sturkopf, nur eben ein junger. Ihr seid in unterschiedliche Richtungen davongerannt und habt euch beide in einem Labyrinth verlaufen.«
    »Für ein Mädchen deines Alters bist du erstaunlich tiefsinnig, Schwesterlein.«
    »Du brauchst gar nicht abzulenken.«
    Giuseppe lächelte mit einem Mal auf eine sonderbar leichte Weise. »Das liegt mir fern. Ich habe Fehler gemacht. Jeder Mensch tut das. Das Leben wird aber erst dann zum Labyrinth, wenn man die eigene Schuld auf andere abwälzt. Leider neigen die meisten von uns dazu, die Verantwortung für ihr Handeln abzuschieben, und verbauen sich damit jeden Ausweg.«
    »Aber du bist nach Silencia zurückgekehrt…«
    »Als ich hierhin aufgebrochen bin, kam ich mir vor wie ein Ritter, der mit seiner Lanze gegen einen großen Lindwurm namens ›Schweigen‹ in den Kampf zieht. Ich war nicht ehrlich gegen mich selbst. Doch inzwischen ist mir einiges klar geworden. Ich möchte mich mit meinem Vater aussöhnen, will ihn besser verstehen und auch von ihm verstanden werden. Nur so kann ich meiner Irrfahrt ein Ende setzen.«
    Pala trat dicht an Giuseppe heran, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Jetzt bist du wieder mein großer Bruder, auf den ich mich verlassen kann und der mich beschützt. Wir hatten uns da wohl beide in etwas verstiegen.«
    »Ich habe das Gefühl, du suchst den Ausweg noch.« Giuseppe sah Pala durchdringend an.
    Sie wich seinem Blick aus. »Keine Ahnung, was du damit meinst.«
    »Ich rede von deiner Sehnsucht nach Liebe – schon vergessen, was du vor ein paar Minuten gesagt hast? Dein Nonno Gaspare ist nicht der Einzige, dem du etwas bedeutest, Pala.«
    »Ein Heiratsantrag wird das jetzt aber nicht, oder?«
    Giuseppe lachte. »Keine Angst, Pala. Ich bin nicht Pasquale. Meine Zuneigung zu dir hat tiefere Wurzeln. Nein, ich rede von deiner Familie.«
    »Ich habe keine Familie mehr.«
    »Als du in der Basilika von eurem Besuch auf Zittos Wohltätigkeitsveranstaltung erzählt hast, hörte sich das aber ganz anders an.«
    Pala verschränkte die Arme vor der Brust und blickte in die Dunkelheit. »Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst.«
    »Warum fühlst du einen so tiefen Schmerz? Sag nicht, ich würde mich irren – ich kann es dir

Weitere Kostenlose Bücher