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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Schriftzeichen.
    Auf und zu…
    Pala versuchte die Buchstaben aneinander zu reihen.
     
    … Da war einmal ein König mit seiner Königin, die sprachen jeden Tag: »Ach wenn wir doch ein Kind hätten!« , und kriegten immer keins… – Es war einmal ein König…
     
    Auf und zu…
    Wie gebannt starrte Pala auf den geruhsamen Takt der Flügel. Der Schmetterling buchstabierte Dornröschen! Allerdings beschränkte er sich auf die einleitenden Worte, die er dafür ständig wiederholte. Bei jedem neuen Versuch veränderte er sie ein wenig, als suche er noch nach der besten Form. Die Pala bekannte Fassung des Märchens hatte er offenbar noch nicht gefunden. Vor lauter Staunen war ihr Kopfschmerz wie weggeblasen.
    »Guten Morgen, Schwesterchen.«
    Pala schreckte zusammen und der Schmetterling ergriff die Flucht. Als ihre Augen ihm folgten, streiften sie ein sorgenvolles Gesicht, das auf dem Kopf stand.
    »Jetzt hast du ihn verscheucht, Giuseppe!«
    »Dir scheint mehr an dem Schmetterling zu liegen als an mir.«
    Stöhnend setzte sich Pala auf, wobei sie ächzte: »Entschuldige, so habe ich das nicht gemeint. Nur – das war kein gewöhnlicher Schmetterling. Er konnte…« Pala stockte, als ihr Blick wieder auf das Gesicht ihres Freundes fiel, das sie – nun richtig herum – müde anlächelte.
    »Du siehst ja furchtbar aus!«
    Giuseppe lachte leise. »Da solltest du dich erst mal sehen! Bis du Pasquale wieder unter die Augen treten kannst, müssen wir schwer an deinem Erscheinungsbild arbeiten. Was wolltest du mir – den Schmetterling erzählen?«
    Unwillkürlich suchten Palas Augen nach dem buchstabierenden Zitronenfalter, der sich jedoch nicht mehr blicken ließ. Dafür gewann sie nun einen ersten Eindruck ihrer näheren Umgebung. Giuseppe hatte das Lager im Schutz hoher Bäume am Rande einer lang gezogenen, abschüssigen Waldlichtung aufgeschlagen. Hauchzarte Dunstschleier waberten zwischen den dicken knorrigen Stämmen. Aus der Nähe hallte das Rauschen des schicksalsträchtigen Flusses herüber. Die Luft war angenehm kühl. Halb verdeckt vom üppigen Blattwerk eines großen Baumes konnte sie über sich das schon vertraute Einheitsgrau des Himmels sehen, unmöglich, die Tageszeit anhand des Sonnenstands abzuschätzen. Für die Untersuchung der von Giuseppe angesprochenen Unzulänglichkeiten reichte das Licht allemal. Ohne Spiegel konnte Pala freilich kaum mehr zu Protokoll nehmen als den Verlust beider Schuhe und eines einzelnen Strumpfes, fernerhin notierte sie im Geiste ein zerfetztes Kleid sowie rundherum zerschrammte Beine und Arme. Sie musste mit einem Mal grinsen.
    »Mutter hätte ihre helle Freude an mir.«
    Ein schwer zu deutender Ausdruck mischte sich in Giuseppes Lächeln. Er ließ die Erörterung von Palas mangelhafter Vorzeigbarkeit fallen und sagte: »Während du schliefst, habe ich lange – unsere Lage nachgedacht. Ich muss dir Recht geben: Um den Weg aus Zittos Reich zu finden, dürfen wir nicht ziellos umhertappen, – wir müssen in uns gehen. Hast du…«
    »Giuseppe!« Palas Augen waren vor Schreck geweitet.
    »Was ist?«
    »Deine… Sie haben dir…«
    »Leidest du unter Sprachschwund, Schwesterlein?«
    »Nein, aber du, Giuseppe. Du kannst das Wort ›über‹ nicht mehr aussprechen.«
    »-bar, irgendwie klingelts in meinen Ohren, wenn du das sagst. Wie soll das Wort heißen?«
    »Und alles, was mit ›sonder‹ beginnt, ist auch verstümmelt.« Pala griff nach Giuseppes Hand und schüttelte fassungslos den Kopf.
    »Vielleicht kommt es von dem Sturz in den Fluss und geht schnell wieder vor-«, sagte Giuseppe, eine schöne Erklärung, die er – man sah es ihm an – selbst nicht glauben konnte. »Da waren einige Steine im Wasser, sehr -e sogar. Ich könnte einen mit dem Kopf gestreift haben. Du siehst ja meine Schramme.«
    »Anscheinend haben sie dir auch das ›Viel‹ geklaut, diese kleinen Ungeheuer!« Vor lauter Verzweiflung und Zorn ballte Pala die Fäuste, ließ sie dann aber kraftlos in ihren Schoß fallen.
    »Du bist ja ganz – dir, Pala.« Giuseppe nahm sie in den Arm und tätschelte tröstend ihren Rücken. »Ich kann dich zwar nicht richtig verstehen, aber das soll uns nicht davon abhalten, Zitto das Handwerk zu legen.«
    »Das ›Außer‹ haben die Kerle dir auch noch abgesaugt«, schluchzte sie. Wieder und wieder schüttelte sie den Kopf. »Was soll nur aus dir werden, Giuseppe? Ein Geschichtenerzähler ohne all diese Silben, das ist wie ein Komponist, dem mehrere Töne

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