Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
ich, musst du mir etwas genauer erklären.«
    »Na, überleg doch mal: Ich habe mich betrogen gefühlt und mich deshalb im Hass verstiegen, anstatt den Weg der Liebe einzuschlagen. Wenn ich es recht überlege, irre ich schon mein Leben lang in einem Labyrinth herum. Ich sehe Wegweiser – ein Geburtsgedicht von einem Fremden anstatt von meinem Vater, alte verblichene Kinderfotos, das manchmal unerklärliche Verhalten meiner Eltern –, aber ich kann sie nicht deuten. Mit deinen Worten hast du mir heute einen Kompass geschenkt, der mir in Zukunft bei der Orientierung helfen wird. Dank dir konnte ich einen großen Irrtum erkennen und weitergehen. Und plötzlich öffnet sich uns der Ausgang aus dem Höhlensystem! Hältst du das etwa für einen Zufall, Giuseppe?«
    Dem Erzähler fiel es sichtlich schwer, Palas kühnen Gedankengängen zu folgen. Um sie nicht vor den Kopf zu stoßen, sagte er: »Ich kann mir keinen Reim auf das machen, was in den Höhlen geschehen ist. Was die Trauerweide und die Zornblume mit unseren Gefühlen angestellt haben, ist allemal ungewöhnlich. Aber wie kann uns diese Einsicht aus unserer verzwickten Lage befreien?«
    Pala stieß die Luft durch die Nase aus. »Frag mich was Leichteres! In meinem Kopf dreht sich alles. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wo oben und unten ist.«
    »Kein Wunder, du hast vermutlich mehr als einen ganzen Tag lang nicht geschlafen. Und mir geht es genauso. Das Gras hier ist weich. Lass uns ein Nickerchen machen. Danach können wir vielleicht wieder klarer denken und finden eine Lösung für unser Problem.«
    Der Vorschlag klang gut. Ja, er machte Pala erst bewusst, wie erschöpft sie tatsächlich war, und sie willigte widerspruchslos ein.
    Aus Angst, die Stadt könne sich während der Suche nach einem geeigneteren Platz davonmachen, streckten sich die beiden an Ort und Stelle ins Gras. Giuseppe zog noch seine Lederweste aus und legte sie zusammengefaltet auf den eben noch so hinderlichen Stein. Nun, nach einer kleinen Lageänderung, diente ihm der glatt geschliffene Findling als Kopfkissen. Pala verzichtete auf derlei zweifelhafte Bequemlichkeit und schlief schon nach kurzer Zeit ein.
     
     
    Sie schreckte aus dem Schlaf und lauschte. Hatte sie nur davon geträumt oder war da wirklich ein Geräusch gewesen? Pala blickte sich argwöhnisch um. Der Wind strich durch die Wipfel der Birken. Auch der leise gurgelnde Fluss war noch da. Giuseppes gleichmäßiger Atem verriet einen friedlichen Schlaf. Viele Geräusche erfüllten die Abendluft, aber der Unheil verkündende Laut aus ihrem Traum befand sich nicht darunter. Schaudernd sah Pala zum Himmel empor. Nichts ließ sich dort entdecken als nur ein gleichmäßig dunkles Grafit – die Sonne musste vor kurzem untergegangen sein. Wie lange hatte sie geschlafen?
    Plötzlich raschelte es ganz in ihrer Nähe und Pala packte die Angst. »Giuseppe. Nun wach schon auf, Giuseppe! Da ist etwas.« Sie schüttelte aufgeregt ihren Freund, der wie ein Toter schlief. Endlich schlug er die Augen auf und sie musste ihre Neuigkeit ein weiteres Mal wiederholen.
    »Vielleicht ein Tier«, murmelte er schlaftrunken.
    Kaum hatte er das gesagt, da brach um sie herum ein Tumult sondergleichen aus. Vom Himmel über den nahen Bäumen schwirrten wild kreischende Gestalten auf sie zu, andere schienen aus dem Boden zu schießen. Ein lautes Brummen erfüllte die Luft.
    »Was ist das?«, stieß Giuseppe entsetzt hervor.
    »Wortklauber!«, erwiderte Pala. »Das sind die Nachtschwärmer, von denen ich dir erzählt habe.«
    Der Schwarm bestand aus mindestens einem, wenn nicht sogar zwei Dutzend der großen Brummer. Sie steuerten mit einer Furchtlosigkeit auf das Paar zu, die Pala überraschte. Zwar fügte sie dem allgemeinen Tohuwabohu eine Menge eigenen Geschreis hinzu, aber davon ließen sich die Wortklauber nicht abschrecken.
    Längst waren Giuseppe und Pala auf den Beinen. Geistesgegenwärtig hatte er seinen Kopfkissenstein vom Boden aufgeklaubt und in die Lederweste gelegt. Nun schwang er diesen Notbehelf von Keule mit lautem Gebrüll über dem Kopf. Peng! Schon hatte er den ersten Wortklauber getroffen.
    »Wir müssen in den Wald fliehen, Pala. Da können sie sich weniger frei bewegen.«
    Krach! Ein weiterer Hieb streckte einen Nachtschwärmer zu Boden. Das hässliche Wesen quiekte und wälzte sich vor Schmerz im Gras.
    Auf diese Weise zogen sich die arg bedrängten Verteidiger vor den kleineren, aber erheblich zahlreicheren Angreifern zurück. Eine

Weitere Kostenlose Bücher