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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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fehlen.«
     
     
    Sie nahm sich viel Zeit, die Behinderung ihres Freundes zu untersuchen. Giuseppe konnte das »Über« wie auch das »Außer«, »Sonder« und »Viel« weder aussprechen noch verstehen. Die seltsame Verflüchtigung der Worte schien, zu diesem Schluss gelangte Pala, ein sich verstärkender Vorgang zu sein. Während Nonno Gaspare als einzige Ausdrucksmöglichkeit nur Bilder geblieben waren, versuchte Giuseppe unbewusst immer wieder auf seine verschütteten Sprachbausteine zuzugreifen, fast so, als suche sein Gehirn nach einer Umleitung – daher die Aussetzer. Palas Vermutung bestätigte sich, als sie ihrem Freund empfahl, Ersatzworte zu gebrauchen.
    »Wenn du an eine große Menge denkst, sag einfach ›massig‹ anstatt ›viel‹.«
    »Große Menge – massig«, wiederholte Giuseppe aufmerksam und nickte.
    »Und für ›über‹…«
    »Was?«
    »Ich meine etwas, das nicht darunter liegt, eher…«
    »Ach du meinst -!«
    Pala seufzte. »Sag einfach ›obenauf‹.«
    Giuseppe strahlte sie an. »Das ist ja massig leichter, als ich befürchtet habe! Wenn ich’s mir recht obenauflege, sollte ich radsszgleicht ohnehin meinen Wortschatz etwas obenaufarbeiten.«
    Pala starrte ihn entsetzt an. Anscheinend hatte sie Giuseppes Silbenschwund unterschätzt. »Das wird ein langer und steiniger Weg.«
    »Wie bitte?«
    Sie lächelte auf selten unglückliche Weise. »Lass uns noch eine Weile an deinen Ersatzsilben arbeiten.«
    Ungeachtet des wieder musizierenden Paukenorchesters in ihrem Kopf widmete sich Pala nun ungefähr eine Stunde lang der sprachlichen Heilbehandlung ihres Freundes. Menschen, denen ein Bein fehlte, konnten sich mit Kunstgliedern aus Holz oft sehr geschickt bewegen. So lernte auch der junge Geschichtenerzähler schnell den Gebrauch von »hölzernen« Ersatzsilben. Besonders hilfreich waren Verneinungen. An Stelle von »groß« konnte man auch »nicht klein« sagen, für »über« ließ sich »nicht drunter« einsetzen. Je nach Zusammenhang musste Giuseppe für bestimmte Verbindungen unterschiedliche Notbehelfe wählen. Er schlug sich wacker.
    Erstaunlicherweise trug er die seltsame Verflüchtigung seiner Worte sehr gefasst. Ja, dadurch wurde er in seinem Entschluss, Zittos Raffgier zu bestrafen, sogar noch mehr angestachelt. Der alten Volkssage zufolge seien mit dem Tod des Unaussprechlichen und seiner Wortklauber auch die von ihm erschacherten Sprachschätze wieder zu ihren ursprünglichen Besitzern zurückgekehrt. Natürlich wollten Giuseppe und Pala auf dem Schlossberg kein Gemetzel anrichten, aber das alte Wissen zeigte doch, wo sich die Wurzel befand, an der das Übel zu packen war.
    »Wir dürfen nicht den Rückweg nach Silencia suchen, – müssen… Ich meine, stattdessen müssen wir Zittos Wehrturm finden«, sprach der Erzähler mit Mühe aus, was ihm durch den Sinn ging.
    »Da oben brennt jede Nacht Licht«, pflichtete ihm Pala bei. »Wenn wir ihn in der Festung aufspüren, dann dort. Die Frage ist nur, wie wir den Weg zur Zitadelle…« Sie verstummte jäh, weil sie ein verdächtiges Geräusch gehört hatte. Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen und ihr Kopf hob sich zum Geäst des Baumes, der den Lagerplatz überschattete. In dem dichten Blattwerk bewegte sich etwas. Giuseppe folgte ihrem Beispiel, er ahnte wohl schon, welchen Verdacht sie hegte.
    Über ihnen hockte ein Wortklauber.
    Jetzt konnte Pala das kleine Scheusal deutlich erkennen. Mit einer Räuberleiter hätten sie es vermutlich sogar berühren können. Zwischen dem Grün ragte ein rostrotes Beinchen heraus und etwas oberhalb glotzte ein großes Auge zu ihnen herab – gerade eben hatte es geblinzelt.
    Blitzartig zog das Mädchen einen dicken, halb verkohlten Knüppel aus der Feuerstelle und schleuderte ihn, mit dem glühenden Ende voran, ins Geäst. Zwar verfehlte das Geschoss den Lauscher, aber der Überraschungsangriff erzielte dennoch eine Wirkung. Das kleine Ungeheuer fiel, mit dem Kopf voran, lauthals schreiend von seiner Sitzstange.
    Der Sturz war erstaunlich kurz. Er endete noch über den beiden Menschen, weil der Wortklauber mit einem seiner Hinterfüße in einer Astgabel hängen geblieben war. Sein Geheul hielt dagegen an. Unablässig schaukelte er hin und her wie einer jener Säcke, an denen Boxer ihre Schlagkraft üben. Das zweite Bein ragte schräg in den Himmel und zappelte gelegentlich, meist im Gleichklang mit dem stotternden Brummen der großen, fast durchsichtigen Flügel – so blieb das Baumelwerk in

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