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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Ende der Welt… Keine dieser Vorstellungen konnte sie zuversichtlich stimmen.
    Während sie mit solchen Erwägungen im Kopf zwischen zwei weit auseinander stehenden Stämmen hindurchlief, schwirrte von hinten im Sturzflug ein Wortklauber heran. Sein brummender Flügelschlag zog jäh Palas Aufmerksamkeit an, für ewig tiefe Schlünde blieb kein Gedanke mehr übrig. Gerade noch rechtzeitig konnte sie den Oberkörper herumreißen und dem ultramarinblauen Angreifer ihren Stecken in den Schmerbauch rammen.
    Uchhhh! Die luftleere Hülle des Herausforderers ging tomatenrot zu Boden.
    »Pass auf, Pala!«
    Giuseppes Warnung kam ein bisschen spät, um das noch ungeklärte Wegbleiben des Fluchtweges in den Mittelpunkt ihres Bewusstsein zurückzurufen: Plötzlich hingen Palas Füße in der Luft. Sie kreischte. Ihr Kopf und ihre Beine flogen nach vorne, der Leib blieb ein wenig zurück, Giuseppes Arm hatte sich nämlich hilfreich um ihre Taille geschlungen und sie damit vor einem übereilten Abgang bewahrt. Einen atemberaubenden Moment lang blickte sie den steilen Abhang aus Wurzeln, Felsen und grünen Farnen hinab, in dem tief unten die weiße Gischt eines reißenden Flusses kochte. Das Rettungsvorhaben stand buchstäblich auf der Kippe, denn Palas Schwung hatte Giuseppe das Gleichgewicht gekostet.
    »Halt mich!«, schrie sie, drehte ihm den Kopf zu und erblickte über der Schulter ihres Freundes ein besonders widerwärtiges Wortklauberexemplar.
    »Tu ich doch!«, erwiderte Giuseppe, während er mit ihr langsam in Richtung Abgrund kippte.
    Die letzte einigermaßen deutliche Wahrnehmung Palas besaß die Gestalt eines enttäuscht anmutenden Wortklaubers, dessen Fußkrallen gerade klackend ins Leere schlugen. Dann begann sich alles um sie herum zu drehen. Schroffe Felsen, nasses Erdreich und einige grüne Pflänzchen rasten an ihr vorbei. Hin und wieder erhaschte sie einen Blick auf tosende Wassermassen. Bei der nächsten Drehung gewahrte sie eine nicht näher bestimmbare Anzahl Wortklauber, die ihr brummend nachjagten. Einmal schwebte Giuseppe an ihr vorüber. Er sah erstaunt aus. Dann klatschte es und sie verlor die Besinnung.
     
     
    Wärme tut gut, vor allem, wenn man pitschnass ist, dachte sie. Ein freundliches Knistern drang an ihr Ohr. Es war das Geräusch aus einer besseren Zeit, als Vater sie nach Einbruch der Dunkelheit vor Nonno Gaspares Haus abzuholen pflegte und sie zu dritt noch eine Weile unterm Sternenhimmel dem Lagerfeuer lauschten und miteinander sprachen. Als Pala sich dem warmen Licht, das durch ihre Lider schimmerte, zuwenden wollte, fuhr ihr ein stechender Schmerz durch den Kopf. Im nächsten Moment war Giuseppe bei ihr.
    »Pala! Endlich bist du wach. Ich dachte schon…« Mühsam schlug sie die Augen auf und sah in das besorgte Gesicht ihres Freundes. Unter Aufbietung all ihrer Kraft hob sie den Arm, um die dicke Schramme über seiner rechten Braue zu betasten. »Dachtest du, ich sei tot?«
    »Du hast noch geatmet«, antwortete er ausweichend. Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. »Danke.«
    »Wofür?«
    »Hast du mich nicht aus dem Fluss gezogen?«
    »Ach das… Wie geht es dir, Schwesterchen?«
    »Ich würde jetzt gerne schlafen. Ungefähr hundert Jahre. Ist das in Ordnung?« Palas schwere Augenlider fielen zu. Sie spürte eine sanfte Hand, die ihre Wange streichelte.
    »Natürlich, Schwesterchen«, sagte Giuseppes weiche Stimme. »Schlaf so lange du willst. Ich wache – dich.«
     
     
    Als Pala zum zweiten Mal dem Schlaf entrann, war die bleierne Schwere aus ihren Gliedern verschwunden. Der Kopf dröhnte zwar noch wie ein ganzes Paukenorchester, etliche Knochen schmerzten, als wären sie an mindestens siebenhundert Stellen gebrochen, aber sonst ging es ihr gut. Sie beschloss, die Augen aufzuschlagen.
    Über sich sah Pala die Äste eines Laubbaumes. Giuseppe konnte sie nicht sehen, aber hören. Er schien gerade trockene Äste zu zerbrechen und ins Feuer zu werfen. Sie drehte den Kopf zur Seite, was sich in etwa so anfühlte, als sei er mit Nägeln gefüllt. Und dann sah sie den Schmetterling.
    Das Insekt saß auf ihrer Schulter. Es war hellgelb wie ein Zitronenfalter und bewegte langsam seine Flügel – auf und zu, auf und zu, auf und… Pala blinzelte verwirrt, weil sie noch nie einen Schmetterling gesehen hatte, der schreiben konnte.
    Auf und zu…
    Die Oberseite jedes Flügels zeigte einen Buchstaben, schwarz wie mit Ruß geschrieben.
    Auf und zu…
    Und wieder sah sie ein anderes Paar von

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