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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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heraufgekommen und rügte gerade die Teilnahmslosigkeit Emilios während des vorangegangenen Geschehens mit strengen Blicken. Der Antilowe schaute zerknirscht zu Boden. »Ja?«, antwortete Giuseppe.
    »Dieser Fluss muss einen gold’nen Schlüssel bergen, ein neues Rätsel, mit dem Zitto uns von seiner Burg fern halten will.«
    »Ja: Welche Buchstaben können einen bis aufs Skelett abnagen, noch ehe man ertrunken ist?«
    »Unsinn. Ich hatte eher an etwas gedacht wie: Was erscheint leicht durchschaubar und erweist sich als unergründlich tief und voller Gefahren, sobald man in es einzudringen sucht?«
    Giuseppe war die Lust auf Denkspiele gründlich vergangen. Nur der Form halber tat er so, als dächte er über Palas Frage nach. Vermutlich zählte er im Stillen nur bis drei, denn nach entmutigend kurzer Zeit zeigte er ihr die leeren Handflächen und antwortete: »Ich weiß nicht. Sag du es mir.«
    »Wir wär’s mit der Seele des Menschen, der Person, die er innerlich ist? Man beurteilt andere oft nach dem ersten Eindruck, aber versucht man, ihn wirklich kennen zu lernen, kann Erstaunliches ans Tageslicht kommen, Einblicke von unbeschreiblicher Schönheit ebenso wie gefährliche, abgrundtiefe Schluchten oder reißende Stromschnellen, die unüberwindlich scheinen.«
    »Du denkst dabei nicht zufällig an deine Mutter oder deinen Vater?«
    »Falls du von meinen Adoptiveltern sprichst – nein…«, antwortete Pala gereizt. Sie wich Giuseppes forschendem Blick aus und fügte eher kleinlaut hinzu: »Oder nicht allein. Als ich Mutter sagen hörte, ich sei nicht ihre Tochter, da…« Sie schluckte.
    »Vermutlich hast du aufgrund dessen in einen Abgrund geblickt, Schwesterchen, aber bitte glaube mir, es gibt eine Brücke, die dich auf die andere Seite bringt. Du darfst sie nicht vorschnell einreißen, so, wie es jemand mit der dort drüben getan hat.« Giuseppe deutete zu dem eingestürzten Bauwerk hin.
    »Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte Pala knapp. »Wir befinden uns in Zittos Reich, hier geht es um ihn. Ich bin sicher, sein Wesen ist anders oder tiefer, eben einfach unergründlicher, als die Menschen in Silencia glauben.«
    »Wenn ihn nicht die Gier nach Macht und Reichtum diese ganzen Worte zusammenraffen lässt, was dann?«
    »Ich weiß es nicht, Giuseppe. Irgendwie habe ich das Gefühl, seine Fabriken und die Wahl zum Stadtoberhaupt sind für ihn nur Mittel zum Zweck. Denk bloß an seine auffällige Leidenschaft für Sprache. Sie durchdringt seine ganze Seele. Müssten wir nicht, um Zitto wirklich zu verstehen, nach Worten suchen, die sein Herz mehr als alles andere begehrt?«
    »Kluges Schwesterlein!«, lobte Tozzo von oben.
    »Siehst du, Giuseppe, der Kleine gibt mir Recht…« Pala hielt den Atem an, weil ein plötzlicher Schwindel sie schwanken ließ. Im nächsten Moment war das ihr mittlerweile vertraut gewordene Gefühl wieder vorbei.
    Der Geschichtenerzähler bemerkte nichts davon. Er hob die Augenbrauen und zog ein schiefes Gesicht. »Na, wenn das Scheusal es sagt, muss es wohl stimmen.«
    Pala knuffte Giuseppe an der Schulter und grinste. »Wird mein großer Bruder jetzt etwa eifersüchtig?«
    »Was denn – auf den da?« Der Erzähler deutete steil nach oben, wo sich Tozzo eben noch befunden hatte.
    Pala lachte glockenhell. »Komm jetzt, ich möchte etwas ausprobieren.« Sie lief entschlossen auf das Wasser zu.
    »Was hast du vor?«, rief Giuseppe entsetzt und eilte ihr nach.
    »Ich wate jetzt durch den Bach.«
    »Bist du verrückt, Pala? Bleib stehen! Es reicht dir wohl nicht, nur einmal fast ertrunken zu sein.«
    »Diesmal geschieht uns nichts. Ich kann es fühlen. Bring Emilio mit.« Sie blieb nur einen Fußbreit vor dem Wasserlauf stehen.
    Giuseppe schnalzte mit der Zunge und Emilio trabte mit gesenktem Kopf herbei. »Nun leg endlich diese scheinheilige Sündermiene ab«, sagte der Geschichtenerzähler und tätschelte seinem Reittier den Hals. »Jetzt kannst du dich bewähren.« Emilios Kopf hob sich mit einem Ruck und blickte aus veilchenblauen Augen erwartungsvoll in seines Herrn Gesicht. Auf Palas Empfehlung hin gab Giuseppe seinem Antilowen einige klare Anweisungen. Dann bildeten sie alle eine Kette: Pala griff nach Giuseppes Hand, der umschlang Emilios Zügel, dessen Schweif wurde von Leokapi ins Maul genommen, der seinen Schwanz wiederum dem Schlusslicht Tozzo anvertraute.
    Nach einem tiefen Atemzug verfiel Pala wieder in den Gang des Fischreihers. Als sie ihren großen Zeh ins Wasser tauchte

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