Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
hin wurde ein dreistündiger Wachwechsel vereinbart. Tozzo bestand darauf, den Anfang zu machen. Er hängte sich kopfunter an einen hohen Ast und verschmolz mit dem Baum zu einem unauffälligen roten Zapfen.
Vor dem Einschlafen stärkten sich Pala und Giuseppe an quadratischen Früchten, die Tozzo am Rande des Tales entdeckt hatte. Er nannte sie Plaudertaschen, womit er wohl nicht nur auf ihre Form anspielte – angeblich entstünden die Gewächse aus »überflüssigem Gequatsche«.
Der Wortklauber war gierig über die Leckerbissen hergefallen, was sie auch in den Augen seiner beiden Begleiter begehrlich machte. Gepflückt aus dem Sattel und sofort probiert, erwiesen sich die Früchte als durchaus genießbar. Ihr Inhalt schmeckte fremdartig, doch nicht unangenehm, süß und zugleich ein wenig bitter. Er verbarg sich unter einer dicken, weichen, orangerot gefärbten Schale, die sich leicht entfernen ließ. Äußerlich erinnerten die Früchte an geldbörsengroße Kopfkissen. Wie sich später herausstellte, hielt die sättigende Wirkung nicht lange vor, doch zunächst schlief Pala, während es noch dämmerte, mit einem wohligen Gefühl im Bauch ein.
Als sie die Augen wieder aufschlug, erblickte sie einen düsteren schwarz-blauen Himmel, aus dem der Schattenriss Tozzos schreiend auf sie zustürzte.
»Angriff! Die Wortklauber kommen! Rette sich, wer kaaaaaann!«
Schon im nächsten Augenblick tauchte ein brummendes Geschwader über der Lichtung auf. Als hätten die Nachtschwärmer sich mit dem Mond verbündet, strahlte ein kaltes Licht hinter den pechschwarzen Wolken, deren Ränder bläulich glühten und die Szene gespenstisch erleuchteten. Noch nie hatte Pala einen solchen Himmel gesehen, geschweige denn eine so zornige Angreiferschar. Die plumpen Körper der Wortklauber zeichneten sich wie schwarze Scherenschnitte in bedrohlicher Zahl auf dem blau lodernden Hintergrund ab.
»In den Wald!«, brüllte Giuseppe.
Pala überlegte nicht lang. Sie lief. Ihre langen Beine trugen sie schnell unter die Nadelbäume. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Hinter sich vernahm sie zorniges Gebrumm, das Splittern von Zweigen, gegen Bäume krachende Verfolger… Die Arme schützend vor das Gesicht erhoben, rannte sie weiter. Selbst der Wald schien sich gegen sie verschworen zu haben. Er schlug sie, rupfte ihr Haare aus, kratzte sie… Wundersamerweise hatte sie sich noch an keinem Ast aufgespießt oder ein Auge durchgebohrt.
Die Wortklauber ließen sich nicht abschütteln. Offenbar konnten sie in der Dunkelheit erheblich besser sehen als jeder Mensch. Nur das dichte Astwerk war ihnen hinderlich. Unter tief hängenden Zweigen keuchte Pala voran, verschluckte sich am eigenen Speichel und hustete wie eine Schwindsüchtige. Lang würde sie nicht mehr so laufen können.
Während die Erschöpfung ihren Widerstandswillen zunehmend schwächte, wurde sie mit bruchstückhaften Gedanken bombardiert: Gib auf, Pala, du schaffst es sowieso nicht. – Den nächsten Sturz in eine Schlucht überlebst du niemals. – Wo sind eigentlich Giuseppe, Tozzo und die Antilowen? Sie retten ihren eigenen Hals; du bist ihnen egal. – Lass dich von den kleinen Scheusalen ruhig ein wenig befingern; wirf ihnen ein paar Worte hin, bestimmt lassen sie sich damit abspeisen…
War es nur die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage oder konnten Zittos Geschöpfe wirklich in ihren Geist eindringen? Palas Verstand bäumte sich mit letzter Kraft gegen die fast unwiderstehliche Versuchung nachzugeben auf – und mit einem Mal geschah etwas Seltsames.
Einige Schritte lang schien sie neben sich selbst herzulaufen und die Chancen von Jägern und Gejagter kühl gegeneinander abzuwägen. Dabei machte sie eine erstaunliche Entdeckung: Das vielstimmige Gebrumm in ihrem Rücken war auf ein einziges lautes Schnarren zusammengeschrumpft…
Ein Zweig peitschte gegen Palas Gesicht und riss sie in die Wirklichkeit zurück. Im Laufen drehte sie sich um und sah für einen Augenblick weit über sich vor dem Himmelsblau einen schwirrenden Schatten. Der letzte Wortklauber schien auch der klügste zu sein. Er ließ sich Zeit. Anstatt sich wie seine Artgenossen um Äste zu wickeln, trieb er sein Spiel mit ihr wie eine Katze mit der Maus.
»Bleib mir vom Hals!«, schrie Pala nach oben und wünschte sich einen dicken Knüppel in die Faust. Doch keine Waffe erschien. Das Brummen des Wortklaubers klang dagegen immer bedrohlicher.
Voller Entsetzen gewahrte Pala nun auch noch das Zurücktreten der
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