Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Bäume. Fünf, sechs lange Schritte keuchte sie noch zwischen weit auseinander stehenden Stämmen hindurch und dann preschte sie auf eine Lichtung. Das Himmelsblau ließ sie auf der anderen Seite der Schneise dichtes Unterholz erkennen – unmöglich, da hindurchzukommen! Eiskalte Angst packte Palas Herz. Der Verfolger über ihr stieß ein markerschütterndes Siegesgeheul aus. Ihre Lage war ausweglos.
Während nun der erschreckend große Wortklauber stahlblau auf sie herniederfuhr, blieb Pala abrupt stehen, wirbelte herum und reckte dem Angreifer die nackte Handfläche entgegen. Die verzweifelte Geste schien das große Scheusal nur zusätzlich anzufeuern. Sein Brummen wurde deutlich heller. Scharfe Klauen und saugnapfbewehrte Spinnenbeinfinger flogen auf sie zu. In ihrer unbändigen Angst konnte Pala nicht mehr klar denken. Ohne zu wissen, was sie da eigentlich tat, schrie sie ein einzelnes Wort heraus.
»Verbaume!«
Anstelle des Wortklaubers fiel ein bläulich schimmernder Glitzerregen vom Himmel. Einen Moment lang sah es so aus, als hätte sich ein Komet in die Waldlichtung gebohrt und dabei seinen funkelnden Schweif zurückgelassen. Dann verblasste das Irrlicht und Pala stand vor einem Baum.
Ein heftiges Schaudern lief ihr über den Rücken. Soweit die herrschenden Lichtverhältnisse diese Beurteilung zuließen, sah das Phantasiegewächs stahlblau aus. Es besaß eine knorrige, knotige Rinde. Pala glaubte direkt vor ihrer Nase die verholzte Fratze eines Wortklaubers zu erkennen. Nahebei ragte ein Ast heraus, der an eine Kralle erinnerte.
So laut es vorher im Wald zugegangen war, so still lag die Lichtung nun da. Nur wenn der Wind ab und zu die Baumkronen streichelte, antworteten sie mit leisem Geflüster. Allmählich schmolz Palas kalte Furcht dahin, doch sie empfand alles andere als Erleichterung. »Das habe ich nicht gewollt«, wimmerte sie und streckte die Hand nach der Rinde aus, die sich trocken und auf eine erschreckende Weise lebendig anfühlte.
»Ich wollte dich nicht…« Ja, wie sollte sie das überhaupt nennen, was sie mit Zittos Geschöpf angerichtet hatte? Töten? Vielleicht lebte das Scheusal ja noch. Einsperren? Auch dieser Begriff erschien ihr unzutreffend. »Verbaumen«, sagte sie schließlich und sank langsam vor dem Stamm in die Knie. Ihre Finger glitten dabei an der rauen Haut des hölzernen Wesens herab. Ja, die Wortschöpferin hatte etwas Neues, etwas schrecklich Neues getan. Bis zu dieser Nacht konnte ein Geschöpf versteinern, verdunsten, vertrocknen, vereisen, vermodern, verrotten, verdursten, verhungern, zersplittern, zerbröseln, zerfleischt und zerhackt, erstickt und ertränkt sowie auf tausend weitere Arten seines natürlichen Daseins beraubt werden – aber bisher war noch kein einziges bei lebendigem Leibe verbaumt.
Nach einer Zeit, die mit unseren Uhren wohl kaum zu messen ist, erhob sich die Wortschöpferin wieder vom Boden und sah sich um. Zittos Reich lag in tiefem Schweigen. Über ihr glühte der schwarzblaue Himmel. Schmerzhaft und unerwartet wie ein in den Rücken zielender Schwertstich traf sie die Gewissheit, allein zu sein.
Pala ließ den verbaumten Wortklauber zurück. Sie schlug die Richtung ein, aus der sie gekommen zu sein glaubte. Obwohl ihr Herz sie suchen hieß, wusste sie um die Vergeblichkeit ihres Unterfangens. Obgleich sie sich ohne die Hilfe der Freunde zu allem und jedem unfähig fühlte, dämmerte ihrem sich sträubenden Bewusstsein doch die Bürde ihrer Einzigartigkeit. Zittos Herausforderer musste ihm gleichrangig sein, kein läppischer Wortstapler, der Bekanntes nur durch neue Anordnung gefällig darbietet und sich dabei das Gedankengut seines Feindes letztmöglich noch zu Eigen macht. Den großen Betrüger vom Schlossberg vor aller Welt bloßzustellen erforderte neue, wohl bedachte Worte.
»Und das«, flüsterte Pala, während sie in die Schatten des Waldes trat, »gelingt nur den an Wahrheitsworten Reichen.«
Gelingt nur den an Wahrheitsworten Reichen,
was stummen Zweiflern gar nicht will gedeihen,
so müssen sie den Armen Worte leihen,
damit Besorgnisse von ihnen weichen.
Die Angst täuscht dich mit trügerischen Zeichen,
aus Freund wird Feind, dem nimmer willst verzeihen.
Sein Blut soll deines Argwohns Tempel weihen,
wünschst ihn verfault im Grab mit and’ren Leichen
Im Lügentümpel fette Kröten brunsten,
des Truges Brut sind unheilvolle Quappen,
doch Wahrheitslicht kann ihren Sumpf verdunsten.
Eh’ Lebensmut dir flieht
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