Paladin der Seelen
einen schwächeren Menschen kann der Dämon zur Zauberei verführen, indem er ihm verspricht, sein Leben zu verlängern.«
»Eine solche Stärke ist selten«, meinte Ista. War dy Cabon vielleicht erst vor kurzem Zeuge einer solch außergewöhnlichen Szene am Sterbebett geworden? Es machte den Eindruck. Kein Wunder, dass er bei der Erinnerung daran ehrfürchtig und demütig wirkte.
Mit einem knappen Schulterzucken pflichtete dy Cabon ihr bei. »Ja. Ich wüsste nicht, ob ich selbst … Doch zum Glück sind frei umherziehende Dämonen selten. Obwohl …«
»Obwohl was?«, bohrte Liss nach, als der immer spärlichere theologische Vortrag allem Anschein nach ganz ins Stocken kam.
Dy Cabon schürzte die Lippen. »Der Erzprälat war überaus beunruhigt. Mein Fall war der dritte entwichene Dämon, der in diesem Jahr allein in Baocia aufgegriffen worden ist.«
»Wie viele fangt Ihr denn normalerweise?«, wollte Liss wissen.
»Nicht mal einen im Jahr in ganz Chalion. Jedenfalls war es seit langer Zeit so. Die letzte große Heimsuchung gab es in den Tagen König Fonsas.«
Dem Vater von Ias und Iselles Großvater, der vor fünfzig Jahren gestorben war.
Ista dachte über dy Cabons Worte nach. »Und was geschieht, wenn der Dämon schon zu stark geworden ist?«
»Ja, was dann?«, sagte dy Cabon. Er schwieg einige Augenblicke und starrte auf die Ohren seines Maultiers, die wie Ruder zu beiden Seiten des Kopfes herabhingen. »Eben deshalb verwendet meine Kirche so große Mühe und so viel Überlegung darauf, die Dämonen zu bannen, solange sie noch schwach sind.«
Die Straße verengte sich wieder und wand sich zu einer kleinen Steinbrücke hinunter, die sich über einen Strom mit grünlichem Wasser wölbte. Mit einem höflichen Gruß zu Ista trieb dy Cabon sein Maultier an und setzte sich an die Spitze.
4
A
m nächsten Morgen brachen sie früh auf und waren lange unterwegs; schließlich aber blieb das Ödland von Baocia hinter ihnen zurück. Die Landschaft wurde sanfter, weniger trocken, und war immer häufiger von Wäldern durchzogen, wobei sie zu den Bergen hin anstieg, die am westlichen Horizont eben noch zu erkennen waren. Doch unter der nun lieblicheren Oberfläche verbarg sich immer noch ein steiniges Skelett.
Die Stadtmauer von Casilchas schmiegte sich an eine kahle Felsnase; darunter trug ein schnell fließender Strom klares, kaltes Schmelzwasser von den fernen Höhen heran. Sowohl die Wälle wie auch die Gebäude waren aus grauen und ockerfarbenen Steinen errichtet, nur hier und da von rosafarbenem oder fahlgrünem Putz aufgelockert, oder von bemalten Türen und Fensterläden aus Holz, die im schräg einfallenden Schein der Abendsonne rot oder blau oder grün aufglühten. Man könnte diesen Anblick wie Wein genießen und trunken werden vor Farben, dachte Ista, während der klappernde Hufschlag ihrer Pferde in den schmalen Gassen widerhallte.
Der Tempel der Stadt lag einem kleinen Marktplatz gegenüber, der mit unregelmäßigen Granitplatten gepflastert war, die perfekt ineinander gefügt waren. Auf der anderen Seite befand sich das Priesterseminar des Bastards. Das Gebäude schien das alte Stadthaus eines einheimischen Adligen gewesen zu sein, das irgendwann der Kirche vermacht worden war.
Auf dy Cabons Klopfen hin öffnete sich eine kleine Pforte in dem schweren, eisenbeschlagenen Doppelportal, und der Pförtner trat heraus. Der ersten Begrüßung des Geistlichen begegnete er mit einem abweisenden Kopfschütteln, und dy Cabon verschwand mit ihm für eine Weile im Innern des Anwesens Dann schwangen unvermittelt beide Türflügel weit auf, und Stallknechte und Novizen eilten heraus, um sich der Reittiere und des Gepäcks der Reisegruppe anzunehmen. Istas Pferd wurde hineingeführt. Drei Stockwerke mit reich geschmückten hölzernen Galerien erhoben sich über dem gepflasterten Innenhof. Ein weiß gewandeter Akolyth kam herbei und stellte eine Trittbank bereit. Der Tempelvorsteher verneigte sich und entbot seinen ergebensten Willkommensgruß. Er redete Ista zwar mit Sera dy Ajelo an, doch sie gab sich keinen Illusionen hin: Er wusste, dass er vor Ista dy Chalion katzbuckelte: Dy Cabon war vielleicht weniger verschwiegen gewesen, als Ista es sich gewünscht hatte. Doch es brachte ihnen zweifellos bessere Räumlichkeiten ein, eifrigere Bedienstete und die bestmögliche Versorgung für ihre erschöpften Reittiere.
Man geleitete Ista und Liss zu ihrem Gemach und brachte ihnen sogleich das
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