Paladin der Seelen
schlenderte sie mit Liss über das Anwesen. Nach einer Weile gelangten sie in den Innenhof, der nun im hellen Sonnenlicht lag. Sie setzten sich auf eine Bank an der Mauer und schauten zu, wie die Angehörigen der Akademie ihren Pflichten nachgingen und geschäftig an ihnen vorübereilten – Schüler und Lehrer und Dienstboten. Ista empfand es als angenehm, dass Liss nicht die ganze Zeit plapperte. Wenn sie angesprochen wurde, konnte man eine durchaus angenehme Unterhaltung mit ihr führen; ansonsten hüllte Liss sich in wohltuendes Schweigen.
Ista spürte, wie ein kühler Hauch von der Mauer ausging, an der sie lehnte; es war einer der Geister dieses Ortes. Er strich um sie herum wie eine Katze, die einen Schoß suchte, und beinahe hätte sie die Hand gehoben und ihn fortgescheucht. Dann aber verschwand die Empfindung. Irgendeine bedauernswerte Seele, die nicht von den Göttern aufgenommen worden war, oder die sich ihnen verweigert oder den Weg verloren hatte. Neu entstandene Geister behielten oft die Form bei, die sie zu Lebzeiten besessen hatten, zumindest für eine Weile, und häufig waren sie zornig, abweisend und aufgebracht. Doch im Laufe der Zeit fielen sie alle einer allmählichen, formlosen Auszehrung zum Opfer.
Obwohl das Gebäude alt war, schien es hier nur wenige Geister zu geben, und die waren offenbar ruhig. In Festungen wie dem Zangre war es schlimmer. Ista hatte sich damit abgefunden, dass sie die Anwesenheit dieser Erscheinungen immer noch spürte. Zum Glück aber nahmen die Geister vor ihrem inneren Auge keine Gestalt mehr an: Hätte sie tatsächlich einen vor sich gesehen, wäre ihr erneut ein Gott zu nahe gekommen, und dann wäre das zweite Gesicht zu ihr zurückgekehrt – und alles, was damit einherging.
Ista dachte an den Hof, den sie in ihrem Traum gesehen hatte. An diesem Ort war sie nie zuvor gewesen, das wusste sie genau. Doch sie war überzeugt davon, dass es diesen Ort tatsächlich gab. Um ihm auszuweichen, ganz sicher auszuweichen, musste sie nur zurück nach Valenda und sich dort in der Burg verstecken, bis ihr Leib verrottete.
Nein. Ich werde nicht umkehren.
Der Gedanke daran ließ sie unruhig werden. Sie erhob sich und durchstreifte die Räumlichkeiten des Seminars, wobei Liss ihr pflichtbewusst auf Schritt und Tritt folgte. Viele Akolythen und Geistliche, die ihr auf den Galerien oder Fluren entgegenkamen, verneigten sich und lächelten, und Ista schloss daraus, dass dy Cabons Indiskretion sich inzwischen weit herumgesprochen hatte. Es machte ihr nichts aus, die Rolle der Sera dy Ajelo zu spielen; doch ein halbes Hundert völlig fremder Leute, die ebenfalls so taten, als wäre sie diese Sera dy Ajelo, empfand sie als irritierend.
Sie gelangten zu einer Abfolge kleinerer Gemächer, jedes voller Bücher, die in Regalen standen oder auf Tischen aufgetürmt waren: dy Cabons geliebte Bibliothek. Zu ihrer Überraschung fand Ista dort Foix dy Gura vor; er saß in einer Fensternische und hatte die Nase in einen Folianten gesteckt. Er schaute auf, blinzelte, erhob sich und deutete eine kleine Verbeugung an. »Herrin. Liss.«
»Ich wusste gar nicht, dass Ihr theologische Bücher lest, Foix.«
»Ach, ich lese fast alles. Aber nicht alles hier hat mit Theologie zu tun. Es gibt Hunderte anderer Themen, und manche sind ziemlich merkwürdig. Es gibt einen abgeschlossenen Raum mit Büchern über Zauberei und Dämonen, und … äh, anzüglichen Titeln. Diese Bücher sind angekettet.«
Ista runzelte die Stirn. »Damit man sie nicht aufschlagen kann?«
Ein Lächeln huschte über Foix’ Gesicht. »Damit man sie nicht davontragen kann, würde ich eher sagen.« Er hielt ihr das Buch entgegen, in dem er gerade las. »Es gibt noch weitere Versromane wie diesen hier. Ich könnte einen für Euch heraussuchen.«
Liss blickte sich ehrfürchtig um. Hier waren vermutlich mehr Bücher auf einem Fleck, als sie in ihrem ganzen Leben gesehen hatte. Hoffnungsvoll schaute sie zu Ista, die jedoch den Kopf schüttelte und erklärte: »Vielleicht ein andermal.«
Dy Cabon steckte den Kopf durch die Türöffnung. »Ah. Herrin. Ausgezeichnet. Ich habe Euch gesucht.« Er schob seine gesamte Körperfülle in den Raum. Ista hatte ihn seit ihrer Ankunft nicht mehr gesehen, ja, nicht einmal während des abendlichen Gottesdienstes, wie ihr nun auffiel. Dy Cabon wirkte erschöpft und blass, und er hatte Ringe unter den Augen. Hatte er sich letzte Nacht zu lange in mühevolle Studien vertieft? »Ich möchte gern …
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