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Paladin der Seelen

Paladin der Seelen

Titel: Paladin der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois McMaster Bujold
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makellos und ohne Narben, doch feine Fältchen liefen über seine Stirn, umrahmten den Mund und breiteten sich fächerförmig um seine Augen aus. Sein dunkles, ebenmäßiges Haar war aus der hohen Stirn zurückgekämmt und floss neben dem Kopf über das Kissen und bis hinunter zu den Schultern, wie ein Fluss aus Schatten. Dazwischen schimmerten vereinzelte graue Strähnen wie eingewobenes Mondlicht. Die Augenbrauen waren gewölbt, die Nase gerade, die Lippen leicht geöffnet.
    Istas geisterhafte Hände lösten den Gürtel und schlugen das leinene Gewand beiseite. Auf der Brust des Mannes zeichneten sich vereinzelte dünne Haare ab; im Schritt bildeten sie ein dichtes Nest. Der Vogel darin war recht ansehnlich und wohlgeformt, wie Ista mit einem Lächeln feststellte. Doch die Verletzung auf seiner linken Brust klaffte auf wie ein kleiner, dunkler Mund. Und noch während Ista schaute, quoll Blut daraus hervor.
    Sie drückte die Hände auf den dunklen Spalt, um die Blutung zu stillen, doch die rote Flüssigkeit strömte zwischen ihren weißen Fingern hindurch – ein plötzlicher Strom, der sich über die Brust des Mannes ergoss und sich in scharlachroten Rinnsalen über die Decken ausbreitete. Der Mann riss die Augen auf, sah Ista und holte erschrocken Luft …
    Ista erwachte, fuhr hoch und drückte sich den Fingerknöchel auf den Mund, um einen Schrei zu ersticken. Sie rechnete damit, Blut zu schmecken, warm, kupfern und klebrig, und war beinahe erschrocken, als dem nicht so war. Ihr Körper war schweißgebadet. Ihr Herz raste, und sie atmete keuchend wie nach einem schnallen Lauf.
    Im Gemach war es dunkel und kalt, und anders als im Traum sickerte Mondlicht durch die Fensterläden. Liss auf ihrem Beistellbett murmelte etwas vor sich hin und drehte sich herum.
    Es war einer von diesen Träumen gewesen. Einer der wahren Träume. Es war kein Irrtum möglich.
    Ista umklammerte krampfhaft ihr Haar, riss den Mund auf, erstarrte, schrie lautlos. Flüsterte: » Ich verfluche dich. Wer von euch es auch ist. Alle fünf sollt ihr verflucht sein! Verschwindet aus meinem Kopf! Verschwindet aus meinem Kopf!«
    Liss gab einen leisen Laut von sich wie ein Kätzchen und murmelte schläfrig: »Majestät? Ist Euch etwas geschehen?« Blinzelnd stützte sie sich auf einen Ellbogen.
    Ista schluckte und versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen. Dann räusperte sie sich. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Nur ein schlechter Traum. Schlaf weiter, Liss.«
    Liss schnaufte zufrieden und drehte sich wieder zur anderen Seite.
    Ista ließ sich zurückfallen und verkroch sich unter dem Federbett, obwohl ihr Körper bereits schweißnass war.
    Fing es wieder an?
    Nein. Nein. Das lasse ich nicht zu. Sie schnappte nach Luft, schluckte schwer und konnte die Tränen kaum zurückhalten. Nach einigen Minuten atmete sie ein wenig ruhiger.
    Was war das für ein Mann gewesen? Sie hatte ihn nie zuvor gesehen. Doch wenn er ihr jetzt begegnete, würde sie sich sogleich an ihn erinnern. Wie ein Brandmal hatten sich seine ansprechenden Gesichtszüge in ihr Gedächtnis gegraben. Und auch … alle anderen Teile seines Körper. War er ein Feind? Ein Freund? Eine Warnung? Ein Bewohner Chalions, ein Ibraner, ein Roknari? Ein Edler oder ein Gemeiner? Was hatte der unheilvolle rote Blutstrom zu bedeuten? Nichts Gutes jedenfalls, so viel war sicher.
    Was immer Du von mir willst, ich kann es nicht. Das habe ich schon einmal bewiesen. Geh weg von mir. Geh weg.
    Zitternd lag sie da, für eine lange Zeit. Der Mondschein wich bereits dem dunstigen Zwielicht der ersten Morgendämmerung, als Ista wieder Schlaf fand.
     
    Ista erwachte erst, nachdem Liss aufgestanden war und bereits wieder ins Gemach zurückkehrte. Peinlich berührt erkannte sie, dass ihre Zofe sie die Morgengebete hatte verschlafen lassen. Das war sehr unhöflich – sowohl für sie in ihrer Rolle als vorgebliche Pilgerin wie auch als Gast.
    »Ihr habt so erschöpft ausgesehen«, entschuldigte sich Liss, als Ista sie deswegen tadelte. »Ich hatte den Eindruck, Ihr hättet letzte Nacht nicht gut geschlafen.«
    Allerdings. Doch Ista musste gestehen, dass sie Dankbarkeit empfand für die zusätzliche Ruhe. Ein untertäniger Akolyth brachte ihr das Frühstück aufs Gemach – ebenfalls nicht die übliche Behandlung für einen Pilger, der den Tagesanbruch verbummelte.
    Ista kleidete sich an und ließ ihr Haar ein wenig aufwendiger flechten – sie hoffte, dass sie nicht allzu sehr an ein Pferd erinnerte. Dann

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