Palast der Stürme
unterwegs. Verärgert über den achtlosen Umgang des Mädchens mit seiner Kleidung hob Roxane Seras Nachthemd vom Boden auf. Sie faltete den weichen Stoff über ihrem Arm zusammen und legte das Kleidungsstück ans Fußende des Betts. Ein Buch, das sie Sera am Tag zuvor gegeben hatte, um sie darüber hinwegzutrösten, dass der Jagdausflug mit Ahmed, Collier und einigen anderen abgesagt worden war, lag geöffnet und mit dem Rücken nach oben auf dem Kissen eines Stuhls. Einige Seiten waren umgeknickt, und Roxane hob das Buch auf und versuchte, die Knicke glatt zu streichen. Sie wünschte, sie hätte keinen solchen Wirbel um diesen Ausflug gemacht; sie hätte wissen müssen, wie enttäuscht Sera sein würde, wenn sie erfuhr, dass er nicht stattfinden würde. Immerhin war sie noch ein Kind.
Roxane machte es aus anderen Gründen zu schaffen, dass sie Colliers und Ahmeds Jagdpläne hatte absagen müssen. Bisher hatte sie noch keine Nachricht von ihrem Ehemann erhalten. Ihr Ehemann – es war immer noch seltsam, auf diese Art an ihn zu denken, aber gleichzeitig auf wunderbare Weise tröstlich und erfreulich.
Ihr Vater hatte ihr am Tag zuvor versichert, dass kein Telegramm mit schlechten Nachrichten aus Meerut eingetroffen sei, und sie gebeten, sich keine Sorgen zu machen. Collier habe sich sicher mit alten Kameraden getroffen und halte sich nun etwas länger auf als vorgesehen. Er würde schon bald zurückkehren, wie Max meinte. Und wenn sie ihm dann den Kopf gewaschen habe, weil er ihre Pläne ruiniert hatte, könnten sie einen neuen Tag dafür vereinbaren.
Sie hatte jedoch nicht vor, ihm den Kopf zu waschen, sondern machte sich große Sorgen darüber, dass er nicht aufgetaucht war.
Zweimal ging sie selbst zum Telegrafenamt und erfuhr, dass keine einziges Telegramm aus Meerut eingetroffen war, seit die Tochter des Postmeisters eine merkwürdige Nachricht an ihre Tante geschickt hatte. Danach war nur noch ein unvollständiger Text eingegangen – offensichtlich hatten den Absender wichtigere Dinge davon abgehalten, seine Nachricht zu beenden.
Der junge Mann im Telegrafenamt hatte die Schultern gezuckt. Möglicherweise seien auch die Leitungen unterbrochen und nicht funktionsfähig. Das käme häufig vor, wäre aber meistens am folgenden Tag behoben.
Roxane hatte sich bedankt und war nach Hause gegangen. Die Auskunft hatte sie noch mehr beunruhigt.
Roxane ging nach unten in das Esszimmer, wo ihr Vater eine Tasse Kaffee trank. Er hatte den Stuhl vom Tisch zurückgeschoben und die Beine gekreuzt und war in die Zeitung in seiner Hand vertieft.
Als sie hereinkam, sah er kurz auf, ohne sie wahrzunehmen, doch dann warf er ihr einen weiteren Blick zu und zuckte zusammen.
»Was tust du hier?«
»Wie bitte?« Roxane gab einen Löffel in Würfel geschnittene Melone in eine Schüssel, spießte dann ein Stück der weichen Frucht auf eine kleine Gabel und steckte sie sich in den Mund, ohne sich an den Tisch zu setzen. Ihr Vater ließ die Zeitung sinken.
»Ich habe gedacht, du seiest mit Sera zusammen.« Er runzelte verwirrt die Stirn.
Roxane zog langsam die Gabel aus ihrem Mund und kaute die süße Melone, während sie versuchte, sich zu erklären, was er damit meinte.
»Zusammen? Ich bin gerade erst aufgewacht. Wann hast du sie gesehen?«
»Vor etwa einer halben Stunde.« Max setzte sich besorgt in seinem Stuhl auf. »Sie sagte, sie wolle in die Stadt fahren. Ich habe natürlich angenommen, sie meinte, zusammen mit dir.«
Roxane stellte die Schüssel so heftig auf den Tisch, dass das Besteck klirrte. Das Gefäß stand so gefährlich nah an der Kante, dass ihr Vater es rasch beiseiteschob.
»Wir haben nicht darüber gesprochen«, sagte sie und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen, um sich zu sammeln. Sie atmete tief durch und strich ihren Rock glatt, während sie versuchte, nicht sinnlos hysterisch zu werden. Warum hatte Sera sich gerade den heutigen Tag für ihre Launen ausgesucht? War sie vielleicht allein in die Stadt gegangen, um sich für ihre Enttäuschung zu rächen, oder glaubte sie etwa, so den Tag zu retten? Nein, so etwas darfst du nicht denken, schalt Roxane sich. Sera war sicher irgendwo im Haus und wartete darauf, dass ihre Schwester wach wurde. »Ich werde die Diener fragen, ob sie sie gesehen haben«, verkündete Roxane ihrem Vater.
»Das ist eine gute Idee«, stimmte ihr Vater ihr erleichtert zu und vertiefte sich wieder in die Zeitung.
Eine halbe Stunde später hatte Roxane ihre kleine Schwester immer
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