Palast der Stürme
vier Kindern eher um Vergebung als um Befreiung, wie es schien. Vielleicht begriff sie ebenso wie Roxane, wie es um ihre Überlebenschancen stand.
In den frühen Morgenstunden schreckte Roxane aus einem unruhigen Schlaf auf. Sie verlagerte ihr Gewicht auf dem harten Steinboden und warf einen Blick auf die Tür, die wieder offen stand. Ein unbestimmter goldener Schein fiel auf das Rechteck – wahrscheinlich stammte das Licht von Fackeln in der Ferne oder von einem Feuer. Eine eurasische Frau stand an der Tür und sprach leise und ernst zu einem der Bewacher. Es klang so, als wollte sie den Mann davon überzeugen, dass sie und ihre Familienangehörigen Moslems und keine Christen waren. Nach wenigen Minuten drehte sich die Frau um, stieg vorsichtig über die schlafenden Leiber und setzte sich in die Nähe von Roxane, wo ihre vier Kinder eng aneinandergeschmiegt lagen. Einen Augenblick lang sahen sich die beiden Frauen in die Augen, dann wandte die Frau den Blick ab, lehnte den Kopf gegen die Mauer und schloss die Augen. Sie sprach nicht mit Roxane, und Roxane versuchte nicht, sich mit ihr zu unterhalten. Sie schlief wieder ein und träumte von Regen.
Am Morgen wurde die angelehnte Tür gewaltsam aufgedrückt und gegen die Wand gestoßen und riss alle, die noch schlummerten, aus dem Schlaf. Ein Säugling begann zu schreien und wurde in einer Ecke von seiner Mutter an der Brust getröstet. Alle standen auf, streckten sich und sahen mit erneuter Angst zur offenen Tür. Ein Mann mit einem Gewehr – einem Enfield-Gewehr, das sicher mit den verhassten Patronen geladen war, wie Roxane dachte – bedeutete ihnen, den Raum zu verlassen. Er befahl es allen, außer den fünf Mohammedanern, die bleiben sollten.
Roxane vermied es, die Frau anzusehen, die wie eine Glucke neben ihr saß und ihre Kinder an sich drückte und sie mit ihrem Rock schützte. Sie nahm ein junges Mädchen an der Hand, das nicht älter als Sera sein konnte und das von seiner Mutter getrennt worden war, und folgte der Prozession ins Sonnenlicht. Draußen wurden sie wie am Tag zuvor geschubst und gestoßen und mit Worten beschimpft, die es nicht wert waren, darüber nachzudenken. Sie wurden wie eine Herde zusammengetrieben und über den Hof in den Schatten eines Pipalbaums gescheucht. Die Peiniger liefen in einiger Entfernung von ihnen hin und her und warfen ihnen finstere Blicke zu, ohne jedoch ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Plötzlich entdeckte das Kind seine Mutter und zog an Roxanes Arm. Sie ließ seine Hand los, damit es gehen konnte.
Die Sonnenstrahlen, die durch die Blätter fielen, waren grün-golden und noch angenehm warm. Eine leichte Brise wehte durch das Blattwerk und trocknete den Schweiß auf Roxanes Stirn, auf ihrer Brust und ihren Unterarmen. Ihr Kleid blieb jedoch hoffnungslos feucht. Sie schloss die Augen und hob ihr Gesicht der Sonne entgegen.
Die Stimme eines Mannes riss sie aus ihren Gedanken, und sie lauschte ihm zerstreut, als er den Gefangenen eine Strafpredigt hielt. Nach einer Weile verkündete er, dass das Privileg, sie zu töten, den Dienern des Königs vorbehalten war. Die Erklärung dafür lieferte er mit plötzlicher unerklärlicher Geduld. Das Töten von Ungläubigen würde auf diese Weise den Privilegierten einen Platz im Paradies verschaffen. Es war eine sehr einfache Schlussfolgerung, die selbst Roxane einleuchtete.
Neben Roxane äußerten einige Frauen Zweifel. Sie glaubten, dass es sich dabei um einen weiteren Versuch handelte, sie alle einzuschüchtern. Sicher würden sie schon bald alle gerettet oder freigelassen werden. Oder man würde sie wieder einsperren, oder der König von Delhi würde ihnen persönlich zu Hilfe kommen … Roxane gab keinen Kommentar dazu ab. Sie hatte genügend Gräueltaten in der Stadt gesehen, um zu wissen, dass der Mann die Wahrheit sagte. In Kürze würden sie alle sterben.
Sie dachte an Collier und versuchte Verbindung zu seiner Seele aufzunehmen, wie ein Drachen im Wind, dessen Schnur zu seiner Hand führte. Sie fühlte ihn, spürte beinahe körperlich, wie er an der Leine zog. Er lebt, dachte sie.
Räche mich nicht, betete sie.
Sie hatte genug Menschen sterben sehen; sie wollte kein weiteres Blutvergießen um ihretwillen.
Die Einheimischen kamen auf sie zu und banden sie mit einem langen Seil zusammen wie Tiere auf dem Weg zur Schlachtbank. Die anderen Frauen kreischten, und einige versuchten, mit den Händen das Seil von ihren Kindern wegzuziehen. Roxane beobachtete sie wie aus
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