Palast der Stürme
fragte sie schließlich.
»Der Mann, der dich gestoßen hat, wurde gut bezahlt …«
In Ahmeds Stimme schwang ein merkwürdiger Ton mit – kalt und kontrolliert. Es war keine Pein wegen des Tods der anderen, sondern vielleicht ein Zeichen dafür, dass ihn lediglich seine Loyalität dazu gezwungen hatte, sie zu retten. Roxane fröstelte und schloss ihre Finger fester um den Becher. Sie wollte Ahmed nicht in einem schlechten Licht sehen, aber die Dinge, die sie vor Kurzem erlebt hatte, hatten ihre Denkweise so gefärbt, dass sie es schwer fand, objektiv zu bleiben und diesen Mann als ihren Freund zu sehen.
Sie starrte auf den dickflüssigen, rubinroten Saft. »Und wenn der Diener deines Onkels verraten würde, dass ich hier bin? Würde dich das nicht in Gefahr bringen?«
»Er wird nichts verraten«, erwiderte Ahmed tonlos.
Roxane hob langsam den Kopf und sah in Ahmeds dunkle Augen. Er stand sehr still und aufrecht da und hatte den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Seine Haltung war ein wenig trotzig und Furcht einflößend. In diesem Augenblick wusste sie, dass der Diener des Königs, der sie gegen Bezahlung vor dem Massaker unter dem Pipalbaum gerettet hatte, tot war. Sie fragte Ahmed nicht, ob sie recht hatte. Sein Anblick genügte ihr.
Mit zittrigen Fingern stellte sie den Becher auf den Tisch zu ihrer Linken und stand auf. Langsam strich sie sich die ungewohnte Kleidung glatt und ging zum Fenster hinüber. Sie blieb an einer Stelle stehen, von der aus sie vom Garten und von den auf der anderen Seite des Innenhofs gelegenen Fenstern nicht gesehen werden konnte, und dachte kurz an die Zeit, die sie hier mit Collier verbracht hatte, und an die blaue Vase auf dem Fensterbrett, die dafür gesorgt hatte, dass sie ungestört waren. Wie lange schien das alles her zu sein, obwohl es nur wenige Monate waren …
»Ich glaube nicht, dass Collier tot ist«, sagte sie ohne Einleitung. Sie hörte, dass sich der Mann hinter ihr bewegte.
»Hattest du denn Grund zu der Annahme, dass er es sein könnte?«, fragte Ahmed leise.
Roxane nickte und schloss ihre Augen in der warmen Sonne. Sie wendete ihm das Gesicht zu.
»Er war in Meerut. Gestern habe ich sein Pferd im Besitz eines anderen Mannes gefunden, hier in Delhi. Ich habe es diesem Mann abgenommen, und dann wurde es mir gestohlen. Ich nehme an, dass der Verlust eines Pferds in diesen wahnsinnigen Zeiten nicht viel bedeutet, aber ich hatte gehofft, ihm Adain zurückbringen zu können.«
Ahmed schwieg. Was er darüber dachte, konnte Roxane nicht erahnen. Anscheinend wollte er eine gewisse Distanz bewahren, und das konnte sie ihm nicht verübeln. Sie hatte immer beobachtet, dass er zwischen den zwei Welten hin- und hergerissen war, in denen er aufgewachsen war, und der Aufruf seiner Brüder, mit Waffengewalt gegen Ausländer vorzugehen, musste quälend für ihn sein. Er war immer noch innig verbunden mit seinem Land, durch Abstammung, Geschichte und Religion, und seine gesamte europäische Erziehung konnte daran nichts ändern. Was Toleranz und Glauben betraf, ähnelte er seinem Großonkel sehr. Er war noch so stark und leidenschaftlich, wie der König von Delhi es in seiner Jugend gewesen war, und ebenso fest verwurzelt in der alten Kultur seines Volks und seines Landes, das schließlich immer noch seine Heimat war.
»Ich bin dir sehr dankbar, dass du mir das Leben gerettet hast, Ahmed«, sagte sie. Er gab ihr keine Antwort. Roxane strich mit der Handfläche über den glatten seidigen Stoff über ihrem Bauch. Bist du noch dort drin, Kleines?, fragte sie in Gedanken. Bist du wirklich da?
»Hast du Sera gesehen? Ist sie gestern hierhergekommen? Ich suche sie schon seit gestern Morgen. Zumindest glaube ich, dass es gestern war. Wie lange war ich bewusstlos?«
»Nicht sehr lange«, erwiderte Ahmed und ging im Zimmer auf und ab. »Nur ein paar Stunden.«
Eine kleine Uhr, ein Geschenk von ihr und Collier, spielte eine kurze Melodie. Viertel nach zwei. Es war noch nicht lange her, dass sie vor den Schwertern derer, die sie beinahe mit den anderen gefangenen Frauen und Kindern getötet hätten, befreit worden war. Die Vergeltungsmaßnahmen für diese entsetzliche Tat würden schrecklich und gnadenlos sein. Männer, die sich stolz für Nachsicht und Ehre aussprachen, würden Dinge tun, die Ersteres unbeachtet lassen und Letzteres verzerren würde. Sie würden im Grunde nur mit Rachegelüsten auf den Mord an den Frauen und Kindern, die sie geliebt hatten – ob tatsächlich
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