Palast der Stürme
Einheimische. Natürlich war ihre Haut hell, aber sie hatte schon einige indische Frauen gesehen, die, wie Sera, einen hellbraunen Teint hatten. Im Schutz der Nacht könnte es Sera und ihr gelingen, sich als Inderinnen – Mutter und Tochter – auszugeben, die aus der Stadt fliehen wollten. Und wenn sie vorsichtig waren …
Zuerst mussten sie jedoch Ahmed entkommen. Er machte sich ebenso große Sorgen um ihre Sicherheit wie um seine eigene, und es würde ihr nicht leichtfallen, ihm die Notwendigkeit klarzumachen, sie gehen zu lassen. Vielleicht könnte sie ihn davon überzeugen, mit ihnen zu kommen? Sie verdankte ihm ihr Leben und würde diese Schuld gern begleichen, auch wenn er in einem britischen Camp bleiben müsste, um dort Schutz zu finden. Allerdings war er ein sehr eigenständiger Mann, der in diesen Krisenzeiten sicher keinen großen Wert auf die Hilfe der bengalischen Armee legte, besonders wenn das bedeutete, dass er, wie sie und Sera im Augenblick, ein Gefangener war. Nein, sie musste sich etwas anderes überlegen, etwas, was ihr und Sera die Freiheit bringen und trotzdem Ahmeds Sicherheit garantieren würde.
Roxane ging in das große Zimmer zurück und sah Ahmed neben Sera auf dem Boden sitzen; geduldig erklärte er dem Mädchen eine besondere Spielregel. In dem Bedürfnis, ihre Freundschaft zu erneuern, die durch die schrecklichen Dinge beeinträchtigt worden war, die sich in letzter Zeit um sie herum ereignet hatten, trat Roxane lächelnd auf ihn zu.
»Ahmed …«
»Roxane?«
Roxane hielt den Atem an und wich zurück. Sie sah, wie Ahmed bei dem Klang der anderen Stimme herumwirbelte und so schnell wie ein Tiger aufsprang. Er griff unter die Falten seines Gewands und zog einen fein geschliffenen, polierten Dolch hervor.
Der Mann in der Kleidung eines Paschtunen richtete den Blick aus seinen schiefergrauen Augen zuerst auf den Säbel und dann auf das Gesicht des Prinzen, in dessen Augen sich unwillkürlich blanker Hass spiegelte. In den vergangenen Tagen hatte sich etliches ereignet, was Roxane betrübt hatte, aber dort Hass zu sehen, wo einmal eine ungewöhnliche Zuneigung geherrscht hatte, traf sie tief ins Herz. Sie stöhnte vor Schmerz und Kummer auf, drängte sich an Ahmed vorbei und stellte sich mit ausgebreiteten Armen zwischen die beiden Männer.
»Nein!«
Sie sah Ahmed nicht an und bemerkte daher nicht, wie sehr ihn schockierte und erschütterte, was er beinahe getan hätte. Ihr Blick war auf Collier gerichtet, auf ihren Ehemann. Er blinzelte überrascht, als er sie erkannte, und riss sie dann in seine Arme.
»Oh mein Liebling«, flüsterte er. »Mein Liebling.« Er drückte den Kopf in ihr Haar und schluchzte so leise, dass es kaum zu hören war. Roxane hielt ihn fest umschlungen und wartete, bis er sich wieder beruhigt hatte, während ihr lautlos Tränen über die Wangen strömten.
Später, als Collier etwas gegessen und Roxane seine Wunden versorgt hatte, um die er sich viel zu lange nicht gekümmert hatte, berichtete er tonlos von den schrecklichen Ereignissen in Meerut und seinem Ritt durch die Nacht. Roxane unterbrach ihn, um ihm zu erzählen, dass sie Adain zurückgeholt hatte, den Hengst aber dann leider wieder verloren hatte. Er hatte sie nur zutiefst traurig angesehen und ihr über das lose Haar gestrichen.
»Mein süßes, tapferes Mädchen«, hatte er ihr so leise ins Ohr geflüstert, dass die anderen es nicht hören konnten. Dann hatte er seinen Bericht fortgesetzt.
Er sprach von den Zuständen in dem Camp in Delhi und von den britischen Bewohnern. Sera rutschte nahe an seine Knie heran, und Roxane wusste, woran sie dachte.
»Und was ist mit Papa?«, fragte sie Collier, obwohl sie die Antwort bereits wusste. Wäre nichts geschehen, dann hätte er das sofort gesagt und nicht erst jetzt am Ende seines Berichts erwähnt. Sie nahm Seras Hand und wartete. Nach einer Weile schüttelte Collier den Kopf.
»Im Gegensatz zu vielen anderen wurde er von den Männern, die ihm bis zum Schluss die Treue hielten, nach Hause gebracht, um dort zu sterben. Erst als er gestorben war, verließen sie ihn, um sich den Rebellen anzuschließen.«
Sera begann zu weinen, wehrte sich jedoch dagegen, von Roxane oder Collier in die Arme genommen und getröstet zu werden. Nur Ahmed gelang es, sie hochzuheben und zum Fenster zu tragen. Auf seinem Weg blies er die Kerze aus und flüsterte ihr in seinem zischenden Akzent Worte ins Ohr, die nur er und Sera verstanden.
Collier lehnte sich in seinem
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