Palast der Stürme
Gesellschaften gab es große Unterschiede, die Roxane nicht so recht verstand. Collier hätte ihr sicher eine Erklärung geben können, wie sie oft dachte. Von Ahmed bekam sie keine direkte Antwort; seine Ausbildung in Europa schien ihn gelehrt zu haben, zweideutige Anspielungen zu machen. Für Roxanes Vater waren die Unterschiede nicht von Bedeutung, sondern gehörten ganz einfach zu dieser Welt. Für sie war jedoch allein die Tatsache, dass relativ wenige Europäer sich in einem Gebiet niedergelassen hatten, das ebenso groß war wie die Fläche, auf der in der Nähe Tausende Einheimische zusammengepfercht lebten, eine gewagte Zurschaustellung von besitzergreifendem Opportunismus. Roxane fand jedoch niemanden, der sich durch dieses Argument nicht verärgert gezeigt hätte, also strich sie es schon bald von ihrer Themenliste bei Abendeinladungen.
Am zehnten Oktober wurde Sera acht Jahre alt. Roxane schenkte dem Mädchen zum Geburtstag einen farbenfrohen Drachen, den sie in einem Basar gekauft hatte. Entschlossen verdrängte sie den Gedanken daran, dass sie dreizehn Jahre alt gewesen war, als ihre Halbschwester geboren wurde, eine halbe Weltreise entfernt, und dass ihr Vater der Mann war, von dem sie zu ihrem Geburtstag erneut die Nachricht erhalten hatte, dass er in den Ferien nicht nach Hause kommen würde. Roxane erinnerte sich, dass sie ihn in diesem Jahr zum letzten Mal darum gebeten hatte.
Die Tage wurden mild und die Nächte kühl, und aus dem Lager wurden Holzscheite für den Kamin herbeigeholt. Unity und ihre Familie waren wieder nach Kalkutta zurückgekehrt und hatten einige Tage bei Roxane und ihrem Vater verbracht. Sera war ständig bei ihnen. Was Augusta Stanton von diesem grünäugigen eurasischen Kind dachte, behielt sie für sich. Unity war begeistert, und ihr Vater war offensichtlich neugierig. Allerdings beschränkte er sich mit seinen Fragen auf die Gelegenheiten, wenn er und Sheffield allein waren und auf der kühlen Veranda Brandy tranken und Zigarren rauchten, während die Frauen die Nachtluft mieden und im Haus blieben. Roxane steuerte die Frauengespräche geschickt auf Themen, die keine schmerzvollen Bereiche berührten, und so fragten die Frauen nicht nach Seras Herkunft, selbst wenn sie die Kühnheit dazu besessen hätten. Auch Collier Harrison und seine bevorstehende Hochzeit wurden nicht erwähnt. Nachts in Morpheus’ Armen begann Roxane jedoch immer wieder von ihm zu träumen, ohne sich losreißen zu können.
Der Schlag der Uhr klang in der Stille des Raums überlaut. Roxane war allein und las aufmerksam einen bestimmten Absatz. Die Strahlen der Dezembersonne, die in einem steilen Winkel durch das Fenster fielen, beleuchteten die Zeilen. Sie las die Passage immer wieder und wieder, so als könne sie den Inhalt nicht verstehen, weil ihre Gedanken anderswo waren. Sie blinzelte, um das Ziffernblatt der Uhr zu sehen, und starrte dann wieder auf die abgegriffene Seite.
Vier Uhr, dachte sie. Die Wörter verschwammen ihr plötzlich vor den Augen. Jetzt ist er verheiratet.
Sie schlug das Buch mit beiden Händen zu. Der Luftzug der Seiten bewegte den Spitzenbesatz an ihrem Ärmel. Vor dem Fenster rief Sera schmeichelnd: »Colonel Max!« Sie wollte, dass er sie mit ihrem oft geflickten Drachen auf das Dach begleitete. Die stetige sanfte Brise würde ihn ohne Schwierigkeiten hoch in die Luft tragen. Roxane hörte, wie ihr Vater gespielt brummig antwortete, dann vernahm sie beider Schritte an der offenen Eingangstür, die einen langsam und schwer, die anderen kaum hörbar und leicht wie die eines Rehs. In der Eingangshalle blieben die beiden stehen, Seite an Seite und Hand in Hand, bevor sie die Treppe hinaufstiegen.
»Roxane, geht es dir gut?« Die Stimme ihres Vaters klang freundlich und väterlich besorgt.
»Könnte nicht besser sein«, log Roxane und wusste sofort, dass sie sich nicht überzeugend angehört hatte.
»Komm doch mit uns nach oben, um Seras Drachen steigen zu lassen. Die Wetterbedingungen sind perfekt.«
»Ja, Roxane, bitte komm«, warf Sera ein, die einige Stufen vor ihrem Vater stehen geblieben war und ungeduldig an seinem Ärmel zupfte, während sie Roxane einen flehenden Blick zuwarf.
Roxane legte ihr Buch zur Seite. »Also gut«, willigte sie ein und folgte ihnen auf das Dach.
Der Drachen flog erfreulich munter zum Abendhimmel hinauf und zog an der Schnur, die Sera umklammerte. Sie krähte und schmeichelte und ermahnte den Drachen, jedes Mal wenn er nach unten sank,
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