Palast der Stürme
Roxane leise. »Ich habe heute nichts getan, wofür ich mich schämen müsste. Wie andere Menschen mein Verhalten beurteilen, liegt allein bei ihnen. Wenn sie mich nicht mögen, dann ändert auch alle Etikette der Welt nichts daran.«
Max Sheffield schwieg eine Weile, dann brach er in Gelächter aus. »Wie ich sehe, bist du genauso dickköpfig wie ich, meine Liebe. Selbst als du noch ein kleines Mädchen warst, befürchtete deine Mutter bereits, dass du diesen Charakterzug von mir geerbt haben könntest.«
Roxane packte schweigend ihre Nähsachen zusammen.
»Roxane, gibt es einen Grund, warum du noch nicht geheiratet hast?«
»Ja«, antwortete sie. Sie stand auf, klemmte sich ihr Nähkästchen unter den Arm und nahm die geflickte Socke in die Hand. »Das war meine eigene Entscheidung, Vater«, fügte sie hinzu.
Sie ließ die Socke ihrem Vater in den Schoß fallen und verließ den Raum.
Die anfängliche Begeisterung über den beeindruckenden Regen ließ nach, als es immer mehr so aussah, als würden die wolkenbruchartigen Güsse nie mehr aufhören. Schon nach kurzer Zeit breitete sich ein muffiger Geruch im Haus aus, der sich nicht mit Parfum oder Räucherstäbchen vertreiben ließ. Alles aus Stoff, vor allem die Betttücher und Handtücher, waren ständig feucht. Schuhe und andere Lederwaren verschimmelten, wenn man sie zu lange im Schrank ließ. Im Waschhaus, wo die Kleidung in Weidenkörben über einem Holzkohlerost getrocknet wurde, vermischte sich der Geruch von verbranntem Stoff mit dem widerlich riechenden Dampf. Insekten wuchsen und gediehen. Aus dunklen Pfützen mit stehendem Wasser erhoben sich Moskitos in dunklen Wolken, und grüne Fliegen und Grillen drängten sich auf den Verandastufen und drangen unter den Türen in solchen Scharen ins Haus ein, dass man es kaum vermeiden konnte, sie zu zertreten.
Wie Roxane schon bald feststellte, war die Regenzeit auch eine Zeit der Krankheiten: Durchfall, Eitergeschwüre, Malaria und Fieber. Sie lernte, wie man solche Krankheiten behandelte, als zuerst ihr Vater und dann Sera krank wurde. Eines Abends kam Sera und bat Roxane um ihre Hilfe – ihre Mutter war an Malaria erkrankt. Sie war sich ihrer Pflichten als Dame des Hauses bewusst, verabreichte der Geliebten ihres Vaters Chinin und blieb an ihrer Seite, bis der Fieberschub vorüber war. Cesya war zum Christentum konvertiert und nahm daher bereitwillig Roxanes Pflege und ihre Medikamente an. Anderen Mitgliedern des Haushalts war es jedoch durch ihre Kaste untersagt, Essen oder Getränke aus Roxanes Hand anzunehmen.
Der Chowkidar, der Nachtwächter, ihres Vaters, ein älterer Mann, wurde ernstlich krank, und schon bald war ersichtlich, dass er sterben würde. Seine Familie kam und brachte ihn zum Fluss hinunter. Im Regen und unter tiefhängenden Wolken blieben sie bei ihm am Ufer des Jumna, um auf den Moment seines Todes zu warten. Sobald er gestorben war, würden sie seine Leiche in den Fluss gleiten lassen. Roxane ging einmal zu ihnen, um mit dem Mann zu sprechen, doch er konnte sie nicht mehr hören, und obwohl seine Familie ihr nicht sagte, dass sie nicht willkommen sei, war klar, dass sie als Eindringling angesehen wurde. Sie blieb einige Minuten stehen und lauschte dem kehligen Ruf des Muezzin von der Mosche nahe des Roten Forts. »La Allah il Allah!«, rief er in die Abenddämmerung hinein. »Es gibt keinen Gott außer Allah!« Dann schenkte sie dem alten Mann ihren Schirm, damit er vor den Regenfällen geschützt war, und ging die zwei Meilen zum Haus ihres Vaters zurück. Wieder war ihre Kleidung durchnässt, doch dieses Mal machte ihr Vater ihr keine Vorhaltungen.
Der September kam, und die sintflutartigen Regenfälle ließen nach. Manchmal fiel einige Stunden lang kein Tropfen, dann blieb es sogar tagelang trocken. In dem dampfenden, trocknenden Land vertilgten die winzigen Eidechsen, die im Haus an den Wänden hingen, Horden von Insekten und wurden immer dicker, schienen die Quelle aber nicht erschöpfen zu können.
Die Natur war von einem intensiven Grün, wie es nur durch den Leben spendenden Regen hatte entstehen können. Alles war mit üppigen Pflanzen überwuchert.
Der angeschwollene schlammig braune Jumna rauschte dem Ganges entgegen. Die Pontonbrücke war hochgezogen worden, bis der Wasserpegel wieder sinken würde. Die Ladeboote lagen am Ufer, dicke Juteseile waren wie riesige Trommeln zugesammengerollt, und daneben waren schwere Holzplanken aufgestapelt.
Eines Tages schien die Sonne,
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