Palast der Stürme
als wäre er ein ungezogenes Haustier. Max griff nach der Leine und zog vorsichtig daran, bis der Drachen wieder in den Himmel stieg.
Roxane lehnte sich gegen den Kamin und beobachtete schweigend die beiden und den farbenprächtigen Drachen, der sie in ihren gemeinsamen Anstrengungen miteinander verband.
Der Schmerz in ihrer Brust, den sie so sorgfältig unterdrückt hatte, schien an Größe und Gewicht ständig zuzunehmen, bis er einem schweren Stein glich.
Nachdem Max den eigenwilligen Drachen zum zwölften Mal gerettet hatte, befahl er Sera, die Schnur aufzurollen. Es wurde spät, und schon bald war es Zeit zum Abendessen. Er stellte sich neben seine ältere Tochter an die Brüstung und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»In meinem Herzen habe ich nie aufgehört, dein Vater zu sein, Roxane«, erklärte er. »Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben.«
Roxane starrte auf den glitzernden Fluss in der Ferne.
»Warum bist du dann nicht zurückgekommen?«
Er wippte leicht auf seinen Fersen. »Das war eine Sache zwischen mir und deiner Mutter. Es war Stolz, Starrsinn, Eifersucht und Dummheit – kurz gesagt ein so umfassender Fehler, dessen ungeheuerliches Ausmaß ich bis heute noch nicht begreifen kann. Aber ich kann diese Jahre nicht mehr ändern, Roxane, obwohl ich mir das wünschte.«
»Das weiß ich«, erwiderte Roxane.
»Tatsächlich? Nicht so schnell, Sera. Wenn der Drachen zu schnell herunterkommt, wird er wieder dem armen Govind auf den Kopf fallen. Du weißt doch, wie ungehalten er beim letzten Mal war.«
Roxane lächelte bei der Vorstellung, dass der große, gesetzte Inder von einem wild gewordenen Drachen am Kopf getroffen wurde. Es war zwar unwahrscheinlich, dass er sich dabei verletzte, aber sie wusste, dass sein Selbstwertgefühl darunter leiden würde.
»Ja, sei vorsichtig«, mahnte sie, ging hinüber und half dem kleinen Mädchen, die Schnur einzuholen, die über das Hausdach hing. Als der Strick auf den Stock gewickelt war, hüpfte Sera mit dem Drachen in der Hand davon. Ihre Mutter hatte sie im Garten im Singsang ihrer Sprache gerufen.
»War Cesya der Ersatz für meine Mutter?«, fragte Roxane leise.
Max Sheffield gestikulierte mit den Händen.
»Kein Mensch kann einen anderen ersetzen, Roxane. Und die beiden haben sich nicht einmal geähnelt. Aber Cesya ist eine gute Frau.«
Roxane kratzte schweigend mit dem Fingernagel eine Flechte von der Mauer. Oh ja, der Schmerz war gewaltig. Wenn sie sich jetzt nicht einen Augenblick Zeit dafür nahm, würde sie daran ersticken.
Max starrte auf die staubige Straße hinter der Gartenmauer.
»Wo sind die Männer in deinem Leben, Roxane? Hast du sie alle abgewiesen?«
Rasende Wut trommelte auf ihren Schmerz ein, wie viele Hände auf einen aufgehenden Brotteig. Roxane schluckte heftig.
»Nein«, antwortete sie. Ihre Stimme stockte, aber sie brach nicht. Und sie blieb gefasst.
»Wer ist dieser Mann, Roxane? Liebst du ihn? Wo um alles in der Welt steckt dieser Kerl jetzt?«
Roxane schloss die Augen. Die ersten Tränen – die Vorhut eines salzigen Stroms – quollen unter ihren dunklen Wimpern hervor.
»Sein Name spielt keine Rolle mehr, Vater«, flüsterte sie. »Aber ich liebe ihn. Und er hat heute geheiratet.«
11
Mein Großonkel liebt es, stundenlang dazusitzen und Reime in fehlerlosem Farsi zu dichten. Er lebt abgeschottet in seiner eigenen Welt von Marmorkolonnaden und mit Juwelen besetzten Springbrunnen, Miss Sheffield. Er hat keine Vorstellung mehr von der Welt außerhalb seiner Palastmauern. Mit zweiundachtzig Jahren regiert er als Letzter der Mogule seit zwanzig Jahren. Die Ostindien-Kompanie unterstützt ihn mit 120000 englischen Pfund im Jahr, sodass er sich sein Gefolge von fünftausend Höflingen leisten kann. Er trifft sich selten mit Engländern, da er sogar vom Generalgouverneur verlangt, in seiner königlichen Anwesenheit die Schuhe auszuziehen. Er ist alt und verbittert und geplagt von dem Gedanken, dass die Kompanie nach seinem Tod seinen Titel abschaffen wird.«
Ahmed sprach mit resignierter Zuneigung von seinem Großonkel und schüttelte den Kopf.
»Ich habe ihm jedoch Ihren Dank für die Rosen übersetzt und ihm gesagt, dass Sie ihnen einen Ehrenplatz gegeben haben.«
Roxane neigte den Kopf und ging neben dem Mann weiter die breite, mit Bäumen gesäumte Straße entlang. Seine Diener hielten einen großen Fächer aus Palmwedeln über seinen Kopf, um ihn vor der Sonne zu schützen. Da sie bei ihrem Gespräch
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