Palast der Stürme
die noch viele solche Tage ankündigte, und die grüne Welt wurde mit einem Goldschimmer überzogen. Roxane stand am Festungsgraben und schaute hinunter auf die Stadt Delhi. Der rote Stein war überflutet mit bronzefarbenen Schattierungen; das Wasser floss golden schimmernd unter den Toren hindurch; die Bäume waren mit einer kupferfarbenen Patina überzogen, und der Himmel strahlte so blau wie das Ei eines Rotkehlchens. Alle Menschen und Tiere, winzig klein in der Ferne, wirkten wie glänzende Pinselstriche in Bewegung. Roxane war ergriffen von der einzigartigen Schönheit der Umgebung. Sie dachte an Collier und an den Tag im Garten, an dem sie sich gemeinsam den Sonnenaufgang angesehen hatten.
Ich würde dir so gern alle schönen Dinge auf dieser Welt zeigen, Roxane. Du musst mich nur lassen.
Sie dachte jetzt oft an ihn, denn das Taubheitsgefühl, in das sie sich eingehüllt hatte, war in der langen, einsamen Nacht nach der Ankunft eines Briefs aus Kalkutta allmählich verschwunden.
Die Schrift auf dem Kuvert war weiblich und ihr nicht bekannt. In dem Umschlag befand sich eine kurze Notiz und ein Artikel aus der örtlichen britischen Zeitung.
»Liebe Roxane«, hieß es in dem Brief. »Ich dachte, das würde Sie interessieren. Anscheinend wurden wir beide hinters Licht geführt. Ihre R.P.«
In dem sorgfältig ausgeschnittenen Zeitungsartikel wurde verspätet die Verlobung von Lord Horace Waverlys Tochter Olivia mit Captain Harrison von der Native Infantry bekannt gegeben. Wie es hieß, würde die Hochzeit im Dezember stattfinden. Dann folgten einige Sätze über den familiären Hintergrund. Roxane machte sich nicht die Mühe, sie zu lesen. Sie hatte den Brief im Waschhaus geöffnet und gelesen, und nun warf sie das Kuvert samt Inhalt in den Holzkohlebehälter und sah zu, wie das Papier zu Asche zerfiel.
Als sie in dieser Nacht allein in ihrem Bett lag, hatte sie sich geweigert, zu weinen oder den bohrenden Schmerz herauszulassen, der sich tief in ihre Seele gebohrt hatte. Vor langer Zeit hatte sie oft aus Kummer wegen ihres Vaters geweint und rasch gelernt, dass Tränen nichts nützten. Selbst wenn sie alle Tränen dieser Welt vergossen hätte, wäre er nicht zu ihrer Mutter und zu ihr zurückgekehrt.
Aber die Erinnerungen an Collier ließen sich nicht länger verdrängen; beim geringsten Anlass tauchte sein Bild vor ihrem geistigen Auge auf. Sie wandte dem herrlichen Ausblick auf den Kaiserpalast und die Häuser in Delhi den Rücken zu und machte sich auf den Weg nach Hause, wo Sera geduldig auf ihre Musikstunde wartete.
Roxane stürzte sich auf die Planung des Gartens. Der Gärtner ihres Vaters war ein fähiger Mann, aber der Colonel war nicht an der Konzeption des Gartens interessiert, sondern nur an dem sich daraus ergebenden schönen Anblick. Roxane setzte sich mit dem Gärtner zusammen und sah sich gemeinsam mit ihm etliche Päckchen mit englischen Samen an, die sie nach Farbe, Kombinationsmöglichkeit, Widerstandsfähigkeit, Höhe oder Ausdehnung aussuchten. Sie sprach mit ihm über die Vielfalt einheimischer Pflanzen und darüber, wo man sie am besten pflanzen oder versetzen sollte, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Sie säten die englischen Samen in flachen Tonschalen aus, die sie unter Bambuskonstruktionen stellten. Am Abend wurden die Dachmatten zurückgerollt, damit die Setzlinge die kühle Luft und den Morgentau genießen konnten. Wenn sie groß genug waren, wurden sie im Garten eingepflanzt. Duftwicken, Stiefmütterchen und wohlriechende Kornblumen wurden in die Töpfe gesetzt, die die Veranda einsäumten. Ahmed Ali trieb blutrote Rosen für sie auf, die aus dem Haus Bahadur Shahs stammten. Sie bekamen einen Ehrenplatz am Rand des Wegs, der zur Eingangstreppe führte. Jeden Tag wurden die Schotterwege mit zwei großen Besen gekehrt. Auf der Grünfläche wurde vorsichtig der Tau entfernt, damit die zarten Schösslinge nicht im Sand verbrannten. Und obwohl Roxane fast immer das letzte Wort behielt, wenn es um den Garten ging, ließ sie den Gärtner stets glauben, dass er das Sagen hatte. Er hatte ihre List natürlich durchschaut, aber er war sehr stolz, wenn es um seine Pflichten ging, und erkannte den Respekt an, den sie ihm zollte. Roxane war im Stillen belustigt, aber sie wusste es auch zu schätzen, dass er sich nicht bevormunden lassen wollte.
Bei ihren Ausflügen in die Stadt lernte Roxane viele der Händler kennen und wurde von ihnen ehrerbietig gegrüßt. Zwischen den beiden
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