Palast der Stürme
bemerkte sie, dass der Junge, der seit dem Tod des Nachtwächters oft neben der Haustür schlief, heute nicht da war. Sie wusste, dass er einen Freund in der Stadt hatte, mit dem er manchmal unterwegs war. Der Junge bewahrte neben der Tür einen dicken Stock auf – für den Fall, dass Einbrecher kämen, wie er ihr gesagt hatte. Ohne darüber nachzudenken, nahm Roxane den Stock in die Hand und hinkte zum Tor. Dort zog sie sich den Schal enger um die Schultern und trat auf die Straße hinaus.
Obwohl die schwingende Laterne schon ein gutes Stück entfernt war und in der tiefschwarzen Nacht auf und ab hüpfte, machte sich Roxane auf den Weg, doch sie war barfuß und nicht an die spitzen Steine und das Geröll auf der Straße gewöhnt. Nach wenigen Schritten blieb sie stehen.
»Cesya!«, flüsterte sie laut. Sie wusste, dass die Frau sie gehört hatte, denn ihr Schritt beschleunigte sich, und die Laterne sprang schneller auf und ab. Das winzige Licht flackerte, als Wachs in die Flamme tropfte und sie beinahe auslöschte.
»Cesya!«, rief sie noch einmal. Eine Weile blieb sie auf der Straße stehen und überlegte, ob sie ihre Schuhe holen und sich angemessen anziehen sollte, um die Inderin zu verfolgen, doch schon bald wurde ihr klar, dass es keinen Sinn hatte. Es war bereits zu spät. Cesya war verschwunden. Roxane wusste nichts über die Familie der Frau und bezweifelte, dass ihr ihr Vater etwas darüber sagen konnte. Cesya war gegangen und hatte ihr einziges Kind dessen Vater überlassen, dem Mann, den sie für die Gefahr verantwortlich machte, derentwegen sie sich zur Flucht gezwungen fühlte. Roxane verstand den Sinn dahinter nicht, aber sie war erleichtert, dass Cesya sich dazu entschlossen hatte, Sera hierzulassen.
Sie ging auf das Anwesen zurück, schob das Tor mit dem dicken Stock hinter sich zu und verriegelte es. Vorsichtig folgte sie dem weißen Weg aus Muschelsplit zu Cesyas Tür und spähte in die Hütte. Die Frau hatte eine brennende Kerze auf dem Tisch zurückgelassen, nur noch ein Stummel, der fast in dem Wachs auf dem Teller versank. Roxane ging hinein und blieb in der Mitte des Raums stehen. Der Duft nach Cesyas Parfumölen hing noch in der Luft. Als sie an den hysterischen Anfall der Frau dachte, konnte Roxane einen Schauder nicht unterdrücken. Seras Kleidung lag in einem unordentlichen Haufen auf dem Bett. Wahrscheinlich hatte sie sie aussortiert, während sie fieberhaft gepackt hatte. Die Inderin hatte jedoch viele ihrer persönlichen Gegenstände zurückgelassen. Offensichtlich hatte sie nur mitgenommen, was sie tragen konnte.
Roxane blies die Kerze aus, verließ die Hütte und verriegelte die Tür. Einen Augenblick lang blieb sie vor dem Häuschen stehen, dann drehte sie sich um und machte sich auf den Rückweg zum Haupthaus. Als sie den hellen Gartenpfad überquerte, hörte sie in der Nähe ein Geräusch, ein Kratzen auf dem verkrusteten Pflaster des Wegs. Im Schatten einer Akazie blieb Roxane wie erstarrt stehen. Sie hielt den Atem an und versuchte, trotz des rauschenden Bluts in ihren Ohren etwas zu hören. Geräuschlos wog sie den Stock in ihrer Hand. Es kam ihr vor, als sei bereits eine Ewigkeit vergangen, als sie endlich beschloss, dass es sich um nichts Bedrohliches gehandelt hatte. Wahrscheinlich war es ein nachtaktives Tier gewesen, das aus seinem Versteck gekrochen war, um nach Nahrung zu suchen.
Offensichtlich hatte er genau darauf gewartet – darauf, dass sie sich in ihrem weißen Nachthemd auf dem silbrigen Pfad zeigte. Während sie gelauscht hatte, konnte er nicht weiter als eine Armlänge von ihr entfernt gewesen sein. Sie war überrascht, dass sie ihn nicht gerochen hatte, so wie ein Tier das getan hätte. Als er näher kam, drehte sie sich um und hob instinktiv den Stock hoch. Ihre Sinne schienen mit einem Mal geschärft, und im Sternenlicht erkannte sie den Mann von dem Basar, den Ahmed als Paschtune bezeichnet hatte. Der lange Säbel an seiner Hüfte schimmerte in der Nacht.
Ohne zu zielen schwang sie den Stock und traf den Eindringling an der Schulter. Er hatte gerade versucht, ihr den Prügel abzunehmen, und war nun einen Augenblick lang abgelenkt. Sie ließ die Waffe los, nachdem sie ihr der Länge nach einen Stoß versetzt hatte, sodass sie sich in seinem Griff drehte und ihm ins Gesicht schlug. Dann raffte sie ihr Nachthemd beinahe bis zur Taille und rannte los. Der Paschtune hatte jedoch leider viel zu schnell sein Gleichgewicht wiedererlangt, packte sie am
Weitere Kostenlose Bücher