Palast der Stürme
Familien auf. Dunkelheit hatte sich wie blauschwarze Tinte über die Erde ergossen. Sterne funkelten wie Juwelen hinter einem Netz von Federwolken. Die Schatten in der Ferne von den Reihen der Sepoys wurden durchbrochen von den aprikosenfarbenen Flammen der vielen Feuerstellen. Einige Stimmen wehten zu ihr herüber, und ein streunender Hund kläffte schrill. Auf der anderen Seite des Tors marschierten zwei Soldaten vorbei. Ihr leises Gespräch tönte überlaut durch die stille Nacht. Nachdem Roxane den Riegel überprüft hatte, eilte sie zurück zum Haus und warf einen kurzen Blick auf Cesyas Hütte, um sich zu vergewissern, dass das Licht brannte und die Tür geschlossen war. Im Inneren des Häuschens schien alles ruhig zu sein.
Roxanes Vater saß immer noch in seinem Büro am Schreibtisch mit der Whiskeyflasche in Reichweite. Neben der Flasche stand ein Glas mit einem kleinen Rest Flüssigkeit, in dem sich das Licht in Regenbogenfarben brach. Als Roxane näher kam, schob er ein paar Papiere hin und her, aber sie hatte den Eindruck, dass er das nur tat, um den Anschein zu erwecken, dass er noch arbeitete. Als Max Sheffield sie schließlich anschaute, sah sie, dass seine Augen blutunterlaufen und im Licht der Lampe glasig waren.
»Brauchst du noch etwas, Vater?«
»Gehst du zu Bett?«
»Ja.«
»Wirfst du noch einen Blick auf Sera?«
»Natürlich.«
»Gute Nacht.« Während der rote Vorhang an der Tür zurückglitt, sah Roxane, dass er erneut nach der Flasche griff. Das Glas klirrte, als er mit dem Flaschenhals daran stieß, bevor er mit unübersehbar unsicherer Hand einschenkte.
Roxane zerrte das feine Moskitonetz zur Seite und sprang aus dem Bett. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie kaum atmen konnte. Der Ton des Schreis klang ihr noch in den Ohren, ein gewaltiges Echo eines schrecklichen Albtraums. Das Haus war jedoch totenstill. Die Stille war so undurchdringlich, dass in ihr eine noch größere Furcht aufstieg. Rasch warf sie einen Schal über ihr schweißnasses Nachthemd und rannte in den anliegenden Raum. Sera lag friedlich schlafend in ihrem Bett und schnarchte leise. Hektisch berührte sie Gesicht und Arme des Mädchens – sie waren seidenweich, kühl und unversehrt. Sera drehte sich murmelnd auf die Seite, und Roxane zog ihrer Schwester das leichte Laken über die Schultern.
An der Tür lehnte sich Roxane gegen den Rahmen und versuchte, ihren rasenden Puls zu beruhigen. Der Traum war so schrecklich und so deutlich gewesen, dass sich ihr immer noch die Haare im Nacken und an den Armen aufstellten. Sie zog den Schal enger um ihre Schultern und lauschte den Geräuschen im Haus. Aus dem Zimmer ihres Vaters drang lautes Schnarchen – ein Beweis dafür, dass er fest schlief. Sicher hatte ihm die Whiskeymenge, die er getrunken hat, dazu verholfen. Im Untergeschoss knarrte ein Holzbalken. Selbst dieses unschuldige Geräusch ließ sie angstvoll aufhorchen. Nach einigen Minuten richtete sich auf, atmete tief durch und ging in den Gang hinaus.
Am Fenster angelangt, sah Roxane in den Garten und auf das dunkle Gebäude am anderen Ende. Sie hatte gehofft, dass ihr Vater Cesya überzeugen würde, die Nacht im Haus zu verbringen. Sie hatte keine Ahnung, was zwischen ihrem Vater und seiner Geliebten vorgefallen war; offensichtlich hatte ihn das Ergebnis des Gesprächs so aus der Fassung gebracht, dass er sich betrunken hatte. Als er zu Bett gegangen war, war er auf der Treppe gestolpert. Sie hatte noch nicht geschlafen und gehört, wie er mit einem gemurmelten Fluch gegen das Treppengeländer gestoßen war.
Unten schlug die Uhr die volle Stunde in einem einzigen blechernen Ton. Im Garten flackerte ein Licht in der Nähe von Cesyas kleinem Haus. Es begann sich zu bewegen, eine funkelnde, auf dem Weg hin- und herschwankende Flamme. Rasch lehnte sich Roxane aus dem Fenster. Cesyas schmaler Schatten bewegte sich vom Haus weg. Die Inderin trug eine Laterne vor sich her. Wollte sie um diese Uhrzeit zu ihrer Familie gehen? Roxane wirbelte herum und lief die Treppen hinunter. Sie war fest entschlossen, mit Seras Mutter zu sprechen, bevor diese davonlaufen konnte.
An der Türschwelle stolperte sie über den Saum ihres Nachthemds und schlug mit dem Knie auf dem Steinboden der Veranda auf. Sie umklammerte ihr schmerzendes Bein, und es dauerte eine Weile, bis sie wieder aufstehen konnte. Als sie es geschafft hatte, wanderte das Licht bereits durch die einen Spalt geöffneten Flügeltüren des Tors. Als Roxane sich umsah,
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