Palast der Stürme
entsprachen sie der Wahrheit. Als verheiratetem Offizier stand Harry ein höherer Sold zu. Roxane fragte sich jedoch, ob er es für eine größere Unterkunft für die beiden anlegen würde oder es für Opium und Pferde verschwenden würde. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich Rose in Harrys schäbigem Bungalow wohlfühlen würde.
Die folgenden Seiten waren angefüllt mit detaillierten Beschreibungen von Unitys Tagen und Nächten, einerseits versehen mit romantischen Ausschmückungen und andererseits mit nüchternen Erkenntnissen. Die wichtigste Neuigkeit kam überraschend ganz am Schluss des Briefs.
»Wir werden dieses Jahr nicht in die Berge fahren. Vater hält es wegen all dieser düsteren Gerüchte für das Beste, wenn wir in Kalkutta bleiben. Das kommt mir gelegen, denn Corporal Lewis – mein Donald – hat ein Treffen mit Vater vereinbart. Ich glaube, dass er vielleicht um meine Hand anhalten wird. Natürlich werde ich bald mehr darüber berichten …«
Lächelnd faltete Roxane den Brief zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück. Liebe, liebe Unity, dachte sie. Hoffentlich bist du in Sicherheit.
Der Vorhang vor dem Büro wurde zur Seite gezogen, und sie hörte die Stimme des Colonels jetzt ganz deutlich. Roxane stand auf und nahm seine Briefe in die Hand.
»Nun, dann willkommen in Delhi, Captain Harrison. Es ist mir eine Freude und eine Ehre, Sie hierzuhaben.«
Roxane zuckte zusammen. Die Briefe flatterten auf den Boden. Rasch bückte sie sich und schob die Schreiben zu einem Stapel zusammen. Ein anderes Paar Hände kam ihr zur Hilfe, stark, groß und tüchtig. Hände, die sie besser kannte, als sie sollte.
»Erlauben Sie mir, Ihnen zu helfen.«
Seine volltönende Stimme drang an ihr Ohr, und sie hörte ein leises Lachen heraus. Sie sah auf und blickte in seine funkelnden, sturmgrauen Augen. Vor Erleichterung hätte sie beinahe einen Schrei ausgestoßen.
»Ich bin gekommen, sobald mich deine Nachricht erreicht hatte«, flüsterte er.
»Du … du bist in Uniform …«
»Tatsächlich?«, neckte er sie und warf einen scheinbar überraschten Blick auf seine Uniform.
»Captain Harrison.«
Ihr Vater tauchte hinter Colliers gebeugten Schultern auf.
»Captain, erlauben Sie mir, Ihnen meine Tochter Roxane Sheffield vorzustellen. Roxane, Captain Collier Harrison ist vor Kurzem nach Delhi versetzt worden.«
Mit einem langen Blick in ihre Augen nahm Collier Roxanes Hand und half ihr hoch. Ohne ihre Hand loszulassen, wandte er sich ihrem Vater zu. Roxane zog ihre Finger rasch zurück und presste die Post an ihre Brust.
»Wir haben uns bereits in Kalkutta getroffen, Vater«, erklärte sie. »Der Captain und ich kennen uns schon.«
Max wandte sich an den jüngeren Mann und runzelte leicht die Stirn. »Sind Sie verheiratet, Captain?«, fragte er ihn.
Colliers Schultern zuckten unter seiner Uniformjacke.
»Nein, Sir.«
Der Colonel runzelte wieder die Stirn. Roxane trat einen Schritt vor. »Warum fragst du ihn danach, Papa?«, erkundigte sie sich betont und reichte ihm den Stapel Briefe.
»Ich wollte nur wissen, wie viele Gedecke mehr die Diener für das heutige Abendessen auflegen sollen, Roxane«, erwiderte er. »Wie ich sehe, handelt es sich nur um eines«, fügte er hinzu und verschwand in seinem Büro.
Collier lachte leise, und Roxane sah ihn verwundert an.
»Mir scheint, ich habe soeben den Befehl erhalten, zum Abendessen zu bleiben. Ich sehe keinen Grund, warum ich diese Einladung ablehnen sollte. Du etwa? Danach können wir reden, mein Liebling. In der Zwischenzeit …« Er zog sie an sich, als sie beide hörten, wie der Colonel seinen Stuhl an den Schreibtisch zog, und küsste sie auf dem Flur vor dem Büro ihres Vaters mit so viel Zurückhaltung, wie er aufbringen konnte.
Roxane empfand in Colliers Nähe eine ihr bisher unbekannte Empfindlichkeit und arrangierte die Sitzordnung am Esstisch daher so, dass er nicht neben ihr, sondern ihr gegenüber saß. Verstohlen beobachtete sie ihn, als er aß, lachte und sich mit allen am Tisch unterhielt. Obwohl er allen gegenüber sehr charmant war, ließ er sie jedoch nie lange aus den Augen. Er war zeitweise viel gesprächiger, als sie ihn kannte, und Roxane bemerkte, dass auch sie mehr redete als üblich, und beschloss, die Belanglosigkeiten aus ihren Unterhaltungen zu streichen. Sie hatte auch bemerkt, dass Collier innerhalb kurzer Zeit mehrere Gläser Wein getrunken hatte, aber als der Diener zum vierten Mal mit der Weinflasche an den
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