Palast der Stürme
seien nicht mehr zu finden. Wahrscheinlich handle es sich um eine Schnittwunde am Hals. Vor wem hatte die Frau sich gefürchtet? Roxane wusste es nicht. Wer hatte sie zuletzt gesehen? Wohin war sie gegangen? Auch das wusste Roxane nicht sicher. Vielleicht hatte Cesya zurückkehren wollen, als sie umgebracht wurde. Wäre sie bereits nach ihrem Aufbruch gestorben, dann wären von der Leiche der armen Frau wohl fast keine Überreste mehr zu finden gewesen, oder? Roxane redete sich ein, dass es so war, denn wäre Cesya in der Nacht ermordet worden, in der Roxane sie das Grundstück hatte verlassen sehen, dann wäre es genau in dem Moment geschehen, in dem Roxane sich von der schwankenden Laterne abgewandt hatte. Dann hätte Cesya bereits tot in den Büschen gelegen, als sie und Collier im Haus der Frau zusammen gewesen waren … Bei diesem Gedanken lief Roxane ein Schauder über den Rücken.
Wer waren ihre Familienangehörigen? Sera hatte sich in diesem Punkt als hilfreich erwiesen, und man hatte eine Benachrichtigung auf den Weg gebracht. Es wurden nur wenige Fragen gestellt, und die Untersuchung war schon bald abgeschlossen. Cesya wurde in geweihter Erde beigesetzt, und nur Sera, Roxane und ihr Vater wohnten der Beerdigung bei.
Als sie wieder zu Hause waren, lief Sera rastlos durch das Haus. Sie hatte nicht geweint, aber es war offensichtlich, dass sich ihre Gedanken um ihre Mutter und deren Tod drehten. Sie gab leise Laute von sich und ging immer wieder zum Fenster, um auf die kleine Hütte hinauszuschauen. Am Nachmittag brachte Roxane sie ins Bett und las ihr eine Geschichte vor, die sie ablenken und zum Einschlafen bringen sollte. Sera unterbrach Roxane beim Vorlesen nicht mit unzähligen Fragen, wie es sonst ihre Art war, sondern starrte durch das Moskitonetz um ihr Bett schweigend an die Decke. Nach einer Weile senkten sich ihre dunklen Wimpern, und Roxane schloss leise das Buch und erhob sich lautlos.
»Es war kein schlechter Traum, der ihr Angst eingejagt hat, Roxane.«
Roxane setzte sich wieder auf die Bettkante und sah in die hellwachen grünen Augen des Mädchens.
»Aber sie ist jetzt bei Christus.«
Roxane brachte kein Wort hervor und nickte nur. Es trieb ihr Tränen in die Augen, wie ruhig das Kind das akzeptierte. Sie beugte sich vor und strich Sera die seidigen schwarzen Haare aus der Stirn.
»Roxane?«
»Ja, mein Schatz?«
Das Mädchen wehrte mit einer Kopfbewegung ihre Finger ab. Roxane zog ihre Hand zurück und ließ sie in den Schoß sinken. Sera stützte sich auf ihre Ellbogen, und ihr abwesender Blick wich einem Ausdruck des Zweifels und der Furcht.
»Werden die bösen Männer mich auch umbringen?«
Einen kurzen Augenblick lang sah Roxane Sera unsicher an. So lange, wie ein Wimpernschlag, ein beginnender Gedanke oder ein Atemzug brauchte, schien ihr diese Welt nicht sicher und vernünftig genug zu sein, um einem Kind Versprechungen zu machen, dessen Mutter soeben unter solch abscheulichen Umständen zu Tode gekommen war. Doch dann nahm sie Sera in die Arme. »Nein, Sera, nein. Sie werden dich nicht umbringen. Ganz ruhig, meine Süße, ganz ruhig!«
Sera begann zu weinen, wahrscheinlich eher aus Furcht als aus einer Trauer, die sie noch nicht begriff. Sie klammerte sich an ihre Schwester, und Roxane wiegte sie in den Armen, bis das Mädchen in einen unruhigen Schlaf fiel. Roxane bat die Ayah, bei Sera zu bleiben, falls sie aufwachen sollte. Sie ging hinunter, setzte sich an ihren Schreibtisch und verfasste eine kurze Nachricht für Ahmed. Sie streute Sand auf die Tinte, steckte das Papier in einen Umschlag und versiegelte ihn, um ihn loszuschicken.
Ich brauche ihn jetzt, lauteten ihre Worte.
14
Nach zwei Wochen Quarantäne wurde Courage für gesund befunden. Roxane war sehr froh darüber. Für Sera wäre es zu viel gewesen, wenn sie nach dem schrecklichen Verlust ihrer Mutter auch noch den Welpen verloren hätte. Ein neuer Mann wurde ans Tor abgestellt, um es sicher verschlossen zu halten und alle Besucher anzukündigen, bevor diesen die Tür geöffnet wurde. Ohne das Wissen ihres Vaters rief sie die Diener einen nach dem anderen zu sich, um sich von ihrer Loyalität zu überzeugen und herauszufinden, was sie im Fall eines Aufruhrs tun würden. Sie sprach bestimmt und ruhig und versprach ihnen eine gewisse Sicherheit. Denjenigen, die auch nur im Geringsten zögerten, bot sie eine kleine Abfindung an. Nur wenige entschlossen sich zu gehen. Sie befragte auch die Nachfolger gründlich und
Weitere Kostenlose Bücher