Pamiu Liebling der Goetter
schon ausgedörrten Kehle. Er griff in den Gurt seines Schurzes und fühlte den kleinen, aber scharfen Dolch, mit dem er die Hanfseile durchschneiden würde. Er griff prüfend an das gespannte Seil und fragte sich, ob er es vielleicht jetzt anschneiden sollte, falls es doch stabiler war, als er dachte. Aber er verwarf den Gedanken wieder, denn er war zu gefährlich. Woher sollte er wissen, wann Khufu seinen Bruder zu der vereinbarten Stelle führte.
Doch dann kamen die Stimmen immer näher, und Pamiu sah, dass Khufu seinen Bruder in seine Richtung wies. Langsam gingen sie beide darauf zu, bis sie exakt unter dem Lastenkran mit dem Granitblock zum Stehen kamen. Pamiu schluckte hart. Was sollte er nun tun? Schließlich stand Khufu mit unter dem Granitblock. Erwartete der Prinz, dass er trotzdem die Seile durchschnitt, oder würde er ihn später anklagen, wenn Pamiu die Seile zerschnitt? Er riskierte einen erneuten Blick nach unten. Immer noch standen die beiden Gestalten regungslos und in eine Unterhaltung vertieft auf der Stelle. Dann sah Pamiu, wie Khufu den Kopf hob und in Richtung des Flaschenzugs blickte. Ihn durchzuckte ein kurzer Blitz, denn er wusste, dass dies das Zeichen sein musste. Langsam näherte sich seine rechte Hand mit dem Dolch den Seilen, wobei sie unkontrolliert zu zittern begann. Er hielt kurz inne. Einen Moment lang drängte sich sein Gewissen in den Vordergrund – er konnte das hier nicht tun. Dann dachte er daran, was Khufu wohl mit ihm anstellen würde, sollte er sich weigern. Er drängte die Zweifel in sich wieder in den dunkelsten Winkel seines Ka zurück und zwang seine Hand zur Ruhe. Ohne weiter zu überlegen durchschnitt er die Hanfseile, die kaum Widerstand leisteten. Er ließ sich zurückfallen, als er das sirrende Geräusch der Seile hörte, die sich von der Spule wanden. Dann gab es einen dumpfen Aufschlag und wildes Geschrei. Pamius Herz raste vor Angst. Er musste sich zwingen, seinen Körper vorzubeugen und nach unten zu sehen. Der Granitblock lag quer im Wüstensand. Noch umgab ihn eine Sandwolke, doch dann lichtete sich der Blick, und Pamiu sah eine Hand und einen Fuß unter dem Granitblock hervorschauen. Ein paar Blutspritzer waren im Sand zu erkennen, aber nicht viel, weil die Gestalt fast vollkommen unter Sand und Granit begraben war.
Pamiu betete, dass es nicht Khufu war, der dort unter dem Stein lag, doch dann hörte er einen Schrei und sah den Pharao herbeieilen. Er warf sich wie ein Gewöhnlicher vor den Stein und weinte wie ein Kind. Und wieder fing er einen Blick auf und erkannte, dass es Khufu war, der hinter dem König stand. Bisher hatte noch niemand die Augen vom grausigen Schauspiel auf der Erde abgewandt, bisher hatte noch niemand der Anwesenden daran gedacht, nach oben zu schauen, von wo das Unheil gekommen war. Mit einem Mal löste sich die Starre in Pamius Gliedern, und er gewann seine Geschmeidigkeit zurück. Er nahm das Messer und fing an sich behände an der Rückseite der Pyramide nach unten zu bewegen, springend, kletternd, ja, er fühlte sich, als würde er körperlos gleiten. Er zitterte nicht mehr, er folgte einem Trieb – dem Überlebenstrieb. Instinktiv setzte er einen Fuß vor den anderen und war bald am Boden angelangt. Er blickte sich nur kurz um, doch anscheinend war auch niemand auf die Idee gekommen, zur Rückseite der Pyramide zu gehen. Er begann zu laufen, seine schlanken Beine kamen im Sand gut voran. Hinter ihm verwischte der Wind die Spuren, und die Wüste schluckte ihn, als wäre er ein willkommener und geliebter Gast. Pamiu wusste, in welche Richtung er laufen musste, ohne sich vorher darüber Gedanken gemacht zu haben. „Du bist von den Göttern begünstigt“, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf, und je länger er ihr lauschte, desto bereitwilliger glaubte er ihr.
Als Pamiu seine Räume erreichte, zog er sich die schmutzigen Kleider aus und wusch sich gründlich im Badehaus. Etwa zwei Stunden verbrachte er dort, in denen er sich zwang, nicht an das Geschehene zu denken. Er wusste, dass er sonst wahnsinnig geworden wäre. Instinktiv schaltete sein Geist auf Verdrängung, und er spürte, wie seine Empfindungen erstarrten. Sodann ließ er sich etwas zu essen auftragen und legte sich in sein Bett, um zu warten. Es dauerte bis spät in die Nacht, bis sich das Haus füllte. Pamiu hörte Schritte, er hörte Flüstern, er hörte, ja, er hörte die Stille, die die Menschen mitbrachten, die in die Residenz zurückkehrten. Sie
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