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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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Fremde. Für einen
Augenblick hüllt sich der Greis in geheimnisvolles Schweigen. »So bist du
gekommen!« sagt er dann. »Ja«, antwortet der Tod selbstgefällig. Und der Greis
sagt entschlossen: »Nein, du bist mein nur halbgeträumter Traum!« Rasch bläst
er die Kerze in der Hand des Fremden aus, und alles verliert sich in der
Dunkelheit. Der Greis legt sich in sein leeres Bett und schläft ein. Er lebt
noch weitere zwanzig Jahre.
    Ich aber wußte, daß mir nichts
dergleichen vergönnt war. Denn er schlug mir das Gefäß noch einmal auf den Kopf.
Der Schmerz, den ich spürte, war so unerträglich geworden, daß ich den Schlag
kaum mehr wahrnahm. Er selbst, das Fäßchen und auch das von der Kerze schwach
erhellte Zimmer waren jetzt schon in die Ferne gerückt und verblaßt.
    Trotz allem lebte ich noch, denn ich
wollte an dieser Welt festhalten, wollte laufen, entfliehen, das erkannte ich
aus den Bewegungen meiner Arme und Hände, die meinen Kopf, mein Gesicht
schützen wollten, erkannte es daraus, daß ich ihn ins Handgelenk gebissen haben
mußte und er mir das Tintenfäßchen auch ins Gesicht schlug.
    Wir rangen wohl ein wenig
miteinander, wenn man es so nennen kann. Er war sehr stark und auch sehr
zornig. Er warf mich auf den Rücken, drückte mir seine Knie auf die Schultern,
nagelte mich geradezu am Boden fest und erzählte mir, dem sterbenden Greis, irgend
etwas in einem sehr unhöflichen Ton. Noch einmal traf das Gefäß meinen Kopf,
vielleicht, weil ich ihn nicht verstehen, ihm nicht zuhören konnte, weil es mir
keineswegs gefiel, in seine blutunterlaufenen Augen zu schauen. Die Tinte, die
aus dem Fäßchen schoß, und wohl auch mein hervorsprudelndes Blut hatten sein Gesicht,
seine Augen, seine Kleidung über und über rot gefärbt.
    Ich schloß meine Augen, tief betrübt
darüber, daß dieser mir zum Feind gewordene Mann das letzte sein wollte, was
ich auf dieser Welt zu sehen bekam. Gleich darauf erblickte ich ein schönes,
sanftes Licht. Es war süß und anziehend wie der Schlaf und würde, so meinte
ich, nun gleich all meine Schmerzen lindern. In diesem Licht befand sich
jemand. Und ich fragte wie ein Kind: »Wer bist du?«
    »Ich bin Azrail«, sagte er. »Ich
beende die Reise des Menschensohnes in dieser Welt. Ich trenne die Kinder von
ihren Müttern, die Frauen von ihren Männern, die Väter von ihren Töchtern, die
Liebenden voneinander. Kein Lebewesen gibt es auf dieser Welt, das mich nicht
kennenlernen wird.«
    Als ich begriff, daß mein Tod
unvermeidlich war, begann ich zu weinen.
    Und das Weinen entfachte in mir
einen schrecklichen Durst. Einerseits gab es einen Schmerz, der den Menschen
zunehmend benommen machte, das war ein Ort der Hast und Grausamkeit, wo mein
Gesicht, mein Auge in Blut gebadet war. Andererseits gab es den Ort, wo Hast
und Grausamkeit endeten, doch der erschien mir fremd und furchterregend. Da ich
wußte, daß jene Welt im Licht, in die Azrail mich rief, die der Toten war,
fürchtete ich mich davor. Doch begriff ich wiederum, daß ich in dieser Welt,
die mich vor Schmerzen aufschreien ließ, nicht mehr lange würde weilen können,
daß mir in diesem Land der Foltern und Schmerzen kein friedliches Eckchen mehr
beschieden war. Es schien, ich müsse, um im Diesseits bleiben zu können, diesen
schrecklichen Schmerz lebenslang ertragen, und das war für mich alten Mann
unmöglich.
    Daher wünschte ich mir den Tod kurz
vor dem Sterben selbst herbei. Im gleichen Augenblick fand ich in diesem
Wunsch die Antwort auf jene Frage, die ich in den Büchern umsonst gesucht und
die mir ein Leben lang Kopfzerbrechen bereitet hatte: Warum es allen Menschen
ausnahmslos gelang, zu sterben. Und ich begriff, daß mich das Sterben noch
weiser machen würde.
    Dennoch zögerte ich unentschlossen,
wie einer, der vor dem Aufbruch zu einer langen Reise seine Augen ein letztes
Mal durch sein Haus, sein Zimmer, über sein Eigentum schweifen lassen möchte.
Ich war erregt und wünschte mir sehnsüchtig, meine Tochter noch einmal zu
sehen. Dieser Wunsch war so stark, daß ich merkte, ich würde noch eine Weile
länger die Zähne zusammenbeißen, den Schmerz und den zunehmenden Durst ertragen
und auf meine Tochter warten können.
    So verblaßte das tödliche, süße
Licht vor meinen Augen ein wenig, und mein Geist öffnete sich den Stimmen und
dem Pochen der Welt, aus der ich schied. Ich konnte vernehmen, wie mein Mörder
durch das Zimmer wanderte, den Schrank öffnete, in den Papieren wühlte, gierig
nach

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