Pamuk, Orhan
Eure
Neugier richtet sich jetzt auf mein Verhalten, auf meine Gefühle. Ihr werdet,
wie manchmal beim Betrachten eines Bildes, die Qualen des abgebildeten Helden,
die Entwicklung der Geschichte bis zu diesem leidvollen Augenblick durchdenken
und eure Schlüsse ziehen, dann werdet ihr meine Handlungsweise betrachten und
versuchen, euch genießerisch vorzustellen, was ihr an meiner Stelle empfunden
hättet, wenn euer Vater auf diese Art ermordet worden wäre – nicht aber meine
Qual!
Nun gut. Ich bin abends
heimgekommen, und jemand hatte meinen Vater umgebracht. Ja, ich habe mir die
Haare gerauft. Ja, ich habe bitterlich geweint. Ja, ich habe ihn wie in meiner
Kindheit mit aller Kraft umarmt und seinen vertrauten Geruch eingesogen. Ja,
ich habe lange, lange vor Furcht, Schmerz und Einsamkeit gezittert und nicht
richtig atmen können. Ja, ich konnte nicht glauben, was ich sah, und habe Allah
angefleht, ihn aufstehen, sich aufrichten und wie immer still in seiner Ecke
bei seinen Büchern sitzen zu lassen. Steh auf, Vater, steh auf, nicht sterben,
nun steh schon auf, bitte, Vater! Doch sein Kopf lag in einer Blutlache und war
zertrümmert. Mehr noch als vor dem Zorn, der meinen Vater getötet, die Papiere
und Bücher zerfetzt, die Ständer, Farbenbehälter und Tintenfäßchen zerbrochen
und verstreut, ein Sitzkissen, den Buchständer und die Schreibpulte wild
zerstückelt und das Drunter und Drüber aller Gegenstände geschaffen hatte,
fürchtete ich mich vor dem zerstörenden Haß, dem dieser Raum zum Opfer gefallen
war. Ich weinte nicht mehr. Während zwei Menschen im Dunkeln lachend und
redend durch die Seitenstraße gingen, horchte ich in meinem Inneren auf das
endlose Schweigen der Welt, wischte mir mit den Händen die Tränen vom Gesicht
und den Schleim von der Nase. Lange Zeit dachte ich über die Kinder und unser
Leben nach.
Ich horchte in die Stille hinein,
packte meinen Vater bei den Füßen, schleifte ihn hinaus auf den Flur. Er kam
mir schwerer vor, doch ich achtete nicht darauf und begann, ihn die Treppe
hinabzuziehen. Als meine Kräfte auf halber Höhe der Treppe versagten, setzte
ich mich hin und hätte vielleicht geweint, doch ein Geräusch ließ mich glauben,
Hayriye und die Kinder kämen, so daß ich wieder nach Vaters Füßen griff, sie
unter meine Achseln klemmte und ihn diesmal noch schneller hinunterzerrte. Der
Schädel meines geliebten Vaters war so zerschmettert und blutüberströmt, daß
er beim Aufschlagen auf die Stufen ein Geräusch wie ein ausgewrungener nasser
Lappen hervorbrachte. Unten angekommen, drehte ich den irgendwie leichter
gewordenen Körper um, zog ihn über die Steinfliesen und brachte ihn ohne
innezuhalten in die während des Sommers benutzte Malstube neben dem Stall. Ich
wollte mich umschauen in dem stockfinsteren Raum und lief zum Herd in der
Küche. Als ich mit einer brennenden Kerze in der Hand zurückkam, sah ich, wie
sehr auch dieses Zimmer verwüstet war, in das ich meinen Vater hineingezogen
hatte. Es verschlug mir die Sprache.
Wer war es, Allahim! Wer von ihnen?
Mein Verstand raste, schnell überlegte
ich viele Dinge gleichzeitig. Ich ließ meinen Vater in der wüsten Unordnung
des Zimmers liegen und schloß die Tür fest zu. Dann holte ich einen Eimer aus
der Küche, zog Wasser aus dem Brunnen und füllte ihn, ging nach oben und
wischte beim Licht der Lampe das Blut auf dem Flur und danach auf den
Treppenstufen fort. Das alles tat ich sehr schnell. Dann ging ich nach oben in
mein Zimmer, zog mein blutbeflecktes Kleid aus und ein sauberes an. Gerade
wollte ich mit Eimer und Lappen in Vaters Zimmer gehen, als ich hörte, wie das
Hoftor geöffnet wurde. Im gleichen Augenblick begann der Ruf zum Abendgebet.
So raffte ich all meine Kraft zusammen und erwartete sie, die Lampe in der
Hand, oben an der Treppe.
»Mutter, wir sind wieder da«, sagte
Orhan.
»Wo seid ihr so lange geblieben,
Hayriye?« schrie ich aus vollem Hals und tat so, als wär's kein Schreien,
sondern ein Flüstern.
»Aber Mutter, wir sind doch noch vor
dem Ruf zum Abendgebet gekommen!« sagte Şevket.
»Still, euer Großvater ist krank, er
schläft!«
»Krank?« fragte Hayriye von unten
her. Doch sie hörte den Zorn aus meinem Schweigen heraus. »Frau Şeküre,
wir haben bei Kosta auf den Kefal gewartet. Als die Fische ankamen, haben wir
ohne zu trödeln frischen Lorbeer gesammelt, und ich habe den Kindern getrocknete
Feigen und gedörrte Kornelkirschen gekauft.«
Am liebsten wäre ich jetzt
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