Pamuk, Orhan
Şeküre
Es schneite so heftig, daß mir die Flocken
durch den Schleier in die Augen drangen. Verfaulte Blätter, Morast und
abgebrochene Zweige machten mir das Laufen im Garten schwer, doch sowie ich die
Straße erreichte, wurden meine Schritte schneller. Ich weiß, ihr wollt
unbedingt erfahren, was ich denke. Wieweit traue ich Kara? So muß ich euch denn
offen sagen, daß ich selbst nur allzugern wüßte, was ich denke. Ihr versteht,
wie durcheinander ich bin, nicht wahr? Nur eins weiß ich schon jetzt: Ich werde
mich wie immer um das Essen, die Kinder, meinen Vater und den anderen Kram kümmern,
und kurze Zeit darauf wird mir mein Herz, ohne daß ich es fragen muß, von sich
aus zuflüstern, was richtig und falsch ist. Morgen, noch vor Mittag, weiß ich,
wen ich heiraten werde.
Da ist etwas, was ich euch noch vor
meiner Rückkehr nach Hause mitteilen möchte. Nein, meine Lieben, laßt jetzt die
Größe des riesigen Organs, das Kara mir gezeigt hat! Darüber können wir später
reden, wenn ihr wollt. Worüber ich eigentlich sprechen will, ist Karas
kopfloses Handeln. Dabei denke ich keineswegs, daß er allein die Wollust vor
Augen hatte. Auch wenn es so sein sollte, macht es keinen großen Unterschied.
Was mich verwirrt, ist seine Unbesonnenheit! Ist ihm nicht eingefallen, daß
ich scheu werden und ihm davonlaufen könnte, daß er mit meiner Ehre spielt und
mich abschrecken, ja, daß sein Benehmen weit Schlimmeres zur Folge haben
könnte? Ich sehe ganz deutlich an dem unschuldigen Ausdruck auf seinem Gesicht,
wie sehr er mich liebt und begehrt. Warum benimmt er sich nicht, wie es sich
gehört, und wartet noch zwölf Tage, nachdem er zwölf Jahre gewartet hat?
Wißt ihr was? Ich fühle, daß ich
mich in jene Unbeholfenheit, in jene kindlichen Unschuldsblicke verliebt habe.
Gerade als mein Zorn auf ihn am stärksten hätte sein müssen, spürte ich dies
und bedauerte ihn. »Ach, der arme Junge!« sagte eine Stimme in mir. »Soviel
Leid kannst du ertragen, und bist gleichzeitig so unbeholfen.« Mein Herz
wünschte so sehr, ihn zu beschützen, daß ich mich diesem verwöhnten Bengel
hätte hingeben können, selbst wenn er einen Fehler machte.
Meine armen Kinder kamen mir in den
Sinn, und ich beschleunigte meine Schritte. Doch gerade in diesem Augenblick
war mir, als käme durch das frühe Dunkel und den dichten Schneefall ein Mann
wie ein Gespenst auf mich zu, so daß ich meinen Kopf tiefer beugte und fortlief.
Als ich zur Hoftür hereinkam,
begriff ich sofort, daß Hayriye und die Kinder noch nicht nach Hause gekommen
waren. Nun ja, der Ruf zum Abendgebet war noch nicht ertönt. Ich ging die
Treppe hinauf; das Haus roch nach Pomeranzenmarmelade; mein Vater war in seinem
dunklen Zimmer; meine Füße waren eiskalt. Ich betrat mit der Lampe mein
Zimmer, sah den geöffneten Schrank und die herausgefallenen Kissen, die
verstreut herumlagen, und sagte zu mir, das waren Şevket und Orhan! Die
Stille im Haus war anders als sonst, es war nicht die gewohnte Stille. Obwohl
ich allein im Dunkeln sitzend für einen Augenblick in meine Phantasien versunken
sein mochte, während ich mein Hauskleid überzog, so hörte ich doch von unten
her, direkt unter mir, nicht aus der Küche, sondern aus dem Zimmer, das im
Sommer als Malstube benutzt wurde, ein tappendes Geräusch. War mein Vater in
dieser Kälte dort hinuntergestiegen? Doch ich erinnerte mich nicht daran, dort
ein Licht gesehen zu haben, sagte ich gerade zu mir, als ich das Knarren der
Tür zwischen der gefliesten Halle und dem Hof vernahm. Und als gleich darauf
hinter dem Hoftor das unheilvolle Gebell der verfluchten Hunde begann, wurde
ich argwöhnisch.
»Hayriye«, rief ich, »Şevket,
Orhan!«
Mir war kalt. Bei Vater brannte wohl
das Kohlenbecken, ich wollte mich zu ihm setzen, mich aufwärmen – meine
Gedanken waren nicht mehr bei Kara, sondern bei meinen Kindern –, und ich
wollte hinübergehen, die Lampe in der Hand.
Während ich über den Flur ging,
dachte ich daran, auf das Kohlenbecken unten Wasser für die Fischsuppe
aufzusetzen. Dann betrat ich das Zimmer mit der blauen Tür und dachte
zerstreut: Was hat Vater nur angerichtet, es ist alles durcheinandergeraten!
Ich schrie auf vor Entsetzen. Und
schrie noch einmal. Dann verstummte ich und betrachtete die Leiche meines
Vaters.
Sehr ihr, euer Schweigen, eure
Kaltblütigkeit sagen mir, daß ihr ohnehin schon längst alles wißt, was sich in
diesem Zimmer zugetragen hat. Wenn nicht alles, so doch sehr viel.
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