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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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dem letzten Bild suchte und, weil er es nicht finden konnte, meine
Utensilien malträtierte, meine Truhen und Kästen, Tintenfäßchen und meinen
Buchständer mit Füßen trat. Und ich bemerkte, daß ich hin und wieder stöhnte,
daß meine alten Arme und müden Beine sich seltsam zuckend bewegten. Ich
wartete.
    Der Schmerz ließ nicht nach, mein
Durst wurde stärker, ich konnte nicht länger dagegen ankämpfen. Doch ich
wartete immer noch.
    Dann kam mir der Gedanke, meine
Tochter könnte meinem niederträchtigen Mörder begegnen, doch ich wollte mir
das nicht vorstellen. Im selben Augenblick spürte ich, daß der Mörder das
Zimmer verlassen hatte. So war wohl das letzte Bild in seine Hände gelangt.
    Der Durst war sehr stark geworden,
trotzdem wartete ich noch. Komm schon, mein Kind, meine schöne Şeküre,
komm!
    Sie kam nicht.
    Meine Kraft kam nicht mehr an gegen
den Schmerz. Mir wurde klar, daß ich sterben würde, ohne meine Tochter gesehen
zu haben. Das quälte mich so sehr, daß ich allein vor Kummer sterben wollte.
Gerade in diesem Augenblick zeigte sich zu meiner Linken ein Gesicht, das ich
noch nie gesehen hatte, und jemand streckte mir freundlich lächelnd ein Glas
Wasser entgegen.
    Alles vergessend, stürzte ich mich
begierig auf das Wasser.
    Der andere zog das Glas zurück und
sagte: »Sprich: Der Prophet Mohammed hat gelogen, und schwöre seinen Worten ab

    Es war der Satan. Ich gab keine
Antwort, fürchtete mich nicht einmal vor ihm. Da ich nie daran geglaubt habe,
ihn zu malen hieße auch, seinen Einflüsterungen zu erliegen, wartete ich
vertrauensvoll ab, dachte an die endlose Reise und an das, was vor mir lag.
    Als mir im selben Augenblick der
leuchtende Engel wieder erschien, verschwand der Teufel. Ein Teil meines
Verstandes wußte, daß die Lichtgestalt, die den Satan vertrieben hatte, Azrail,
der Todesengel, war. Doch ein anderer, rebellischer Teil erinnerte mich daran,
daß im Buch von den Letzten Dingen geschrieben stand, Azrail sei ein
Engel mit tausend von Osten bis nach Westen reichenden Flügeln, der die ganze
Welt in Händen hielt.
    Während mein Verstand nun ganz
durcheinandergeriet, kam der Engel im Lichtschein näher und sagte geradezu
liebevoll, wie Gazzali in seinen Perlen des Ruhms: »Öffne deinen Mund,
damit deine Seele rasch von dort entkomme.«
    »Nichts kommt aus meinem Mund außer
den Bismillah- Worten«, gab ich ihm zur Antwort.
    Aber das war nur ein letzter
Vorwand. Ich hatte begriffen, daß mein Widerstand am Ende und meine Zeit
gekommen war. Nur schämte ich mich auf einmal, meiner Tochter, die ich nie mehr
wiedersehen würde, meinen häßlichen, blutbesudelten Körper auf diese elende
Art und Weise zu hinterlassen. Ich wollte diese Welt verlassen, wollte
herausschlüpfen wie aus einem Kleid, das mir zu eng geworden war.
    So öffnete ich meinen Mund, und
alles schillerte in vielen Farben und wurde in eine herrliche, mit reichlich
Goldwasser besprenkelte Helle getaucht, wie auf den Bildern, die von der
Himmelfahrt unseres Propheten und seinem Besuch im Paradies erzählen. Bittere
Tränen liefen mir aus den Augen. Ein keuchender Atemzug verließ meine Lungen,
meinen Mund, und alles versank in einer wunderbaren Stille.
    Jetzt konnte ich erkennen, daß meine
Seele sich schon leicht von meinem Körper gelöst hatte und in der Hand des Todesengels
lag. Sie war so klein wie eine Biene, leuchtete und bebte noch wie Quecksilber
in Azrails Hand, da sie beim Verlassen meines Körpers ins Zucken geraten war.
Doch mein Verstand verweilte nicht bei ihr, er befand sich nun in diesem
vollkommen neuen Reich, in das ich eingegangen war.
    Nach so unendlich vielen Schmerzen
war mein Inneres nunmehr von tiefem Frieden erfüllt, und ich litt nicht an
meinem Tod, wie ich befürchtet hatte; ich war im Gegenteil erleichtert und
hatte sogleich begriffen, daß mein jetziger Zustand von Dauer, jene erdrückende
Beklemmung noch zu Lebzeiten aber nur vorübergehend gewesen war. Alles würde
auf diese Weise Jahrhunderte und Jahrhunderte weitergehen bis zum Jüngsten Tag,
was mir weder beklagenswert noch erfreulich erschien. Ereignisse, die mich
früher einmal rasch hintereinander überwältigt hatten, dehnten sich jetzt in
einem endlosen Raum aus und existierten gleichzeitig. Wie auf den Bildern der
breiten Doppelseite, in deren jede Ecke der witzige Illustrator eine Figur gemalt
hatte, die mit den anderen nichts zu tun hatte, so gingen auf einmal viele
Dinge gleichzeitig vor sich.

30
  Ich,

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