Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
Vom Netzwerk:
herrlichen Teppich im Freien auf
Blumen und unter frühlingsgrünen Bäumen sitzen und der Musik schöner Frauen
und Knaben lauschen; all die herrlichen Abbilder von Porzellan und Teppichen,
die ihre Vollkommenheit den unter bitteren Tränen empfangenen Prügeln
Tausender Buchmalerlehrlinge von Samarkand bis Istanbul während der letzten
hundertfünfzig Jahre verdanken; jene noch immer von dir mit derselben
Begeisterung gezeichneten Gärten und Raubvögel, unglaublichen Kriegs- und
Sterbeszenen, auf anmutige Weise jagenden Padischahs und auf ebenso anmutige
Weise flüchtenden scheuen Gazellen, deine sterbenden Schahs, gefangenen Feinde,
die Galeeren der Ungläubigen und Städte der Feinde und all deine glitzernd
dunklen Nächte, die wie dunkle Tropfen aus deinem Pinsel blinkten, deine
Sterne, geisterhaften Zypressen und deine rotgetönten Bilder von Liebe und Tod – sie alle werden verschwinden.«
    Er schlug mir das Fäßchen mit aller
Kraft auf den Kopf.
    Die Wucht des Aufpralls ließ mich
vornübertaumeln. Ich spürte einen schrecklichen, unbeschreiblichen Schmerz. Auf
einmal schien, als sei die ganze Welt in meinen Schmerz gehüllt und werde leichenblaß.
Obwohl ein Großteil meines Verstandes erkannte, wie sehr beabsichtigt war, was
mir angetan wurde, wollte ein anderer Teil, der seit dem – oder durch den – Schlag nicht mehr gut funktionierte, diesem Wahnsinnigen, der es auf mein
Leben abgesehen hatte, in rührender Gutmütigkeit sagen: Um Himmels willen, du
machst einen Fehler, du tust mir furchtbar weh!
    Noch einmal schlug er das
Bronzegefäß auf meinen Kopf.
    Diesmal begriff auch die
unvernünftige Seite meiner Vernunft, daß es kein Fehler war, sondern Irrsinn
und Zorn, und daß am Ende der Tod stehen könnte. Diese Erkenntnis erschreckte
mich so sehr, daß ich mit aller Macht vor Schmerz aufheulte und zu schreien begann.
Hätte man meine Schreie gemalt, sie wären grasgrün gewesen. Doch ich begriff,
daß niemand auf den leeren Straßen in der abendlichen Dunkelheit diese Farbe
würde hören können, daß ich ganz allein war.
    Mein Wehgeschrei ängstigte ihn, und
er hielt inne. Auf einmal trafen sich unsere Blicke. Außer Entsetzen und Scham
las ich aus seinen Augen schon die Gewöhnung an das, was er tat, die innere
Zustimmung. Er war nicht mehr der mir bekannte Meisterillustrator, sondern ein
ganz anderer, bösartiger Fremdling, der nicht einmal meiner Sprache mächtig
war. Und daher schien es in jenem Augenblick, als dauerte meine Einsamkeit
jahrhundertelang. Ich suchte nach seiner Hand, als wolle ich die Welt
umklammern – es war zwecklos. Ich flehte oder meinte, es zu tun: »Mein Sohn,
töte mich nicht, mein Sohn.« Doch wie es im Traum geschieht, schien er mich
nicht zu hören.
    Und wieder schlug er mir das Fäßchen
auf den Kopf.
    Mein Verstand, meine Erlebnisse,
meine Erinnerungen, meine Augen, alles war zu Furcht geworden und gänzlich
vermischt. Ich sah keine Farbe mehr und begriff, daß alle Farben Rot geworden
waren. Was ich für mein Blut hielt, war rote Tinte. Und was ich an seiner
Hand für Tinte hielt, war mein unstillbares rotes Blut.
    Wie ungerecht, unerbittlich und
gnadenlos fand ich in jenem Augenblick das Sterben! Doch gerade das war es,
wohin mich mein blutender Greisenkopf nach und nach hingeführt hatte. Dann bemerkte
ich, daß meine Erinnerungen blütenweiß waren wie draußen der Schnee. Der
Schmerz in meinem Kopf klopfte und pochte in meinem Mund.
    Ich werde euch jetzt das Sterben schildern.
Eines habt ihr vielleicht schon längst begriffen: Der Tod ist nicht das Ende
von allem, das steht fest. Doch er ist, wie alle Bücher schreiben, etwas
unglaublich Qualvolles. Nicht nur mein zerschmetterter Schädel und mein
herausspritzendes Gehirn, sondern alles an mir scheint, eins ins andere
übergehend, in brennenden Schmerz gehüllt. Es ist so schwer, diese unendliche
Qual zu ertragen, daß mich ein Teil meines Verstandes als einzigen Ausweg
daraus ins Vergessen und einen süßen Schlaf treiben möchte.
    Ich erinnerte mich vor dem Sterben
an ein altsyrisches Märchen, das ich als junger Mensch hörte. Ein einsamer
Greis erwacht um Mitternacht, steht auf und trinkt ein Glas Wasser. Er will das
Glas auf den kleinen Tisch stellen, doch die Kerze ist fort. Wo ist sie? Aus
seinem Zimmer dringt ein fadendünnes Licht. Er folgt dem Schein, geht ins
Zimmer zurück und findet einen anderen, die Kerze in der Hand, in seinem Bett
vor. »Wer bist du?« fragt er ihn. »Der Tod«, sagt der

Weitere Kostenlose Bücher