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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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Diener, Kinder und
Frauen, die den Herd anzünden, werden die Seiten, die Bilder gedankenlos
zerreißen. Kleine Kronprinzen werden sie beim Spiel mit ihren Stiften übermalen,
die Augen der Menschen ausbohren, die Bildseiten mit ihrem Speichel
verwischen, die Ränder mit dem schwarzen Stift bekritzeln; irgendwer wird alle
naselang von Sünde sprechen, alles einschwärzen, zerrupfen, zerreißen, zerschneiden,
vielleicht für andere Bilder benutzen oder auch zum Vergnügen damit
herumspielen. Während die Mütter unsere Malereien als unanständig zerreißen,
werden die Väter und die älteren Brüder sich über den Bildern von Frauen einen
runterholen und sie einnässen; und nicht nur das wird die Seiten verkleben,
sondern auch Schlamm, Feuchtigkeit, schlechter Harzkleber, Speichel und
sonstiger Schmutz und Speisereste. An den verklebten Stellen werden sich
Flecken, Schimmelblumen und Dreck wie Schwären ausbreiten. Dann werden
Regenfälle, undichte Dächer, Überschwemmungen und Schlamm unsere Bücher
zunichte machen. Und das letzte Buch, das mit den durch Wasser, Feuchtigkeit,
Insekten und Teilnahmslosigkeit zu Brei gewordenen, zerrupften, zerlöcherten,
verblaßten, unleserlichen Seiten zusammen wie ein Wunder heil und sauber vom
Boden der Truhe auftaucht, wird natürlich eines schönen Tages während eines
Brandes von den Flammen verschlungen werden. Es gibt doch kein Viertel in
Istanbul, das nicht alle zwanzig Jahre einmal abbrennt – wie sollte da ein Buch
erhalten bleiben? Welcher Illustrator vermag sich vorzustellen, daß sein
Wunderwerk in dieser Stadt, in der alle drei Jahre mehr Bücher und Bibliotheken
vernichtet werden als bei der Plünderung Bagdads durch die Mongolen, mehr als
hundert Jahre überleben, daß man eines Tages seine Bilder anschauen und seiner
wie Behzats gedenken könnte? Nicht nur unsere Werke, sondern alles, was seit
Jahrhunderten in unserem Reich hervorgebracht wurde, wird dem Feuer, den
Würmern und der Gleichgültigkeit zum Opfer fallen. Alles wird auf diese Weise
vernichtet werden: Şirin, die stolz aus dem Fenster auf Hüsrev
hinunterschaut, Hüsrev, der den Anblick der so schön im Mondlicht badenden Şirin
genießt, das sehnsuchtsvolle, feine und zarte Augenspiel aller Liebenden;
Rüstem, der in der Tiefe des Brunnens mit dem weißen Teufel ringt und ihn
tötet; Mecnuns traurige Lage in der Wüste und seine Freundschaft mit dem weißen
Tiger und der Bergziege, nachdem ihn die Liebe um den Verstand gebracht hat;
der verräterische Schäferhund, der sich jede Nacht mit der Wölfin paart und sie
stets mit einem Schaf aus der ihm anvertrauten Herde beschenkt, dann gefangen
und am Baum erhängt wird; all die tränenreich mit Blüten, Engeln, begrünten
Zweigen und Vögeln bestückten Randornamente; all die zur Zierde der
rätselhaften Poesie des Hafiz gezeichneten Ud-Spieler; all der Wandschmuck, der
Tausenden, Zehntausenden von Buchmalerlehrlingen die Augen verdorben und die
Meister blind gemacht hat; all die Reimpaare, die über den Türen, auf kleinen
Tafeln an den Wänden, zwischen den ineinandergefügten Rahmenlinien des Bildes
verborgen sind; die am Fuß der Mauern, in den Ecken, im Frontschmuck der
Häuser, unter den Fußsohlen, unter Büschen und zwischen Felsen verborgenen,
bescheidenen Signaturen; all die Blumen auf den Decken, welche die Liebenden
umhüllen; all die abgehauenen Köpfe der Ungläubigen, die geduldig am Rande
warten, während der selige Großvater unseres Padischahs die feindliche Festung
siegreich bestürmt; all die Kanonen, Gewehre und Zelte im Hintergrund, als der
Gesandte der Ungläubigen dem Urgroßvater unseres Padischahs die Füße küßt – an
denen auch du in deiner Jugend mitgezeichnet hast –; all die gehörnten,
ungehörnten, geschwänzten und ungeschwänzten Teufel mit spitzen Zähnen und
spitzen Nägeln; Tausende verschiedener Vögel, unter ihnen der weise Wiedehopf,
der hüpfende Spatz, der Grünschnabel, die Dichterin Nachtigall; friedliche
Katzen, friedlose Hunde, hastige Wolken; liebenswerte, zarte Gräser, auf
Zehntausenden von Bildern wiederholt, die Schatten der Felsen, von ungeübter
Hand gemalt, und Zehntausende von Zypressen, Platanen und Granatapfelbäumen,
deren einzelne Blätter mit Engelsgeduld ausgeführt worden sind; Paläste nach
dem Vorbild aus der Zeit des Timur oder des Schah Tahmasp, die jedoch viel
ältere Legenden schmücken, und Hunderttausende ihrer Ziegel; Zehntausende
melancholischer Kronprinzen, die auf einem

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