Pamuk, Orhan
Stellvertreter ist, wird man – auch ohne unsere Geschichte zu lesen verstehen,
daß der Kadi Efendi sofort nachdem er zwei Goldstücke in die Tasche gesteckt
hatte, seinen Platz dem Stellvertreter überließ, damit er Şeküres
Scheidung vornahm.
Das DRITTE BILD soll die gleiche
Szene zeigen, doch diesmal müssen beim Ornamentieren der Wände weniger
durchsichtige, ineinander verschlungene Zweige nach chinesischer Art als Verzierung
gewählt werden und dunkler gefärbt sein, und über dem Stellvertreter des Kadis
müssen dichte, bunte Wolken gemalt werden, um verständlich zu machen, daß in unserer
Geschichte ein Spiel enthalten ist. Der Imam und sein Bruder, die auf dem Bild
gemeinsam erscheinen müssen, obwohl jeder einzeln vor den stellvertretenden
Kadi gerufen wird, beschreiben auf eindrucksvolle Weise, daß der Ehemann der
tief betrübten Şeküre nach vier Jahren noch immer nicht aus dem Krieg
zurückgekehrt sei, Şeküre in Armut lebe, weil sie nicht vom Ehemann
versorgt werde, zwei Waisenkinder hungerten und weinten, noch kein Anwärter
auf die Vaterstelle für die Waisen aufgetreten sei, da Şeküre noch als
verheiratet gelte, ja daß sie gerade aus diesem Grund keinen Kredit aufnehmen
könne, weil ja die Erlaubnis des Ehemanns fehle. Die tauben Wände sogar hätten
sie daraufhin sofort unter Tränen für ledig erklären müssen, doch der herzlose
Stellvertreter hört nicht hin und fragt, wer Şeküres Vormund sei. Nach
kurzem Zögern trete ich vor und erkläre, ihr hochgeschätzter Herr Vater, der
unserem Padischah als Tschausch und Gesandter gedient hat, sei am Leben.
»Ich spreche die Scheidung auf
keinen Fall aus, wenn er nicht vor Gericht erscheint!« sagte der
Stellvertreter.
Daraufhin erklärte ich hastig, mein
Oheim Efendi liege im Sterben und erflehe sich als letzten Wunsch von Allah,
seine Tochter wieder frei zu sehen, und ich würde ihn hier vertreten.
»Und was wird aus ihr, wenn sie
geschieden wird?« fragte der Stellvertreter. »Warum soll ein Sterbender so
dringend wünschen, daß seine Tochter von ihrem schon längst im Krieg
verschollenen Ehemann geschieden wird? Doch halt – wenn es allerdings eine gute
Gelegenheit für eine neue Ehe der Tochter, einen vertrauenswürdigen Anwärter
als Schwiegersohn geben sollte, verstehe ich das, weil er dann in Frieden
sterben könnte.«
»Es gibt jemanden, Stellvertreter
Efendi«, sagte ich.
»Wen?«
»Mich.«
»Ist das möglich? Du bist der
Vertreter des Vormunds!« meinte der Stellvertreter des Kadis. »Was sind deine
Geschäfte?«
»Ich habe für die Paschas in den
östlichen Provinzen Briefe aufgesetzt, als Sekretär und als Helfer des
Finanzmeisters gearbeitet, habe eine Geschichte der Perserkriege geschrieben,
die ich unserem Padischah unterbreiten werde, verstehe mich auf Malerei und
Illustration. Seit zwanzig Jahren bin ich in Liebe zu dieser Frau entbrannt.
«
»Bist du verwandt mit ihr?«
Als ich mich so unverhofft in der
Lage eines Bittstellers vor dem Vertreter des Kadis sah und mein Leben wie
einen Gegenstand schonungslos offen vor ihm ausbreiten sollte, schämte ich mich
so sehr, daß ich schwieg.
»Antworte mir, statt rot zu werden
wie ein Radieschen, oder ich werde sie nicht ledig sprechen!«
»Sie ist die Tochter meiner Tante.«
»Hmm, ich verstehe. Kannst du sie
glücklich machen?«
Er hatte diese Frage mit einer
unanständigen Handbewegung begleitet. Diese Ungeziemlichkeit soll der
Illustrator aber nicht malen. Es genügt, wenn er das Rot in meinem Gesicht
wiedergibt.
»Ich habe ein gutes Einkommen.«
»Da ich Şafiide bin, gibt es dem Heiligen Buch und meinem
Glauben zufolge keinen Einwand gegen die Scheidung der unglücklichen Şeküre
von ihrem Ehemann, der seit vier Jahren nicht aus dem Krieg zurückgekehrt ist«,
sagte der Stellvertreter Efendi. »Ich erkläre sie für geschieden. Auch wenn der
Ehemann jetzt noch zurückkommen sollte, hat er keine rechtlichen Ansprüche mehr
an sie.«
Das folgende Bild, die VIERTE SZENE also,
muß die Eintragung der Scheidung ins Register zeigen, die der
Stellvertreter mit Hilfe des gehorsamen Buchstabenheeres in Gang setzte, sowie
gleich darauf das Versiegeln des Papiers, welches meine liebe Şeküre für
ledig erklärte und bestätigte, daß einer sofortigen neuen Eheschließung nichts
im Wege stehe, und schließlich die Übergabe des Dokuments an mich. Doch das
innere Leuchten meines Glücks in jenem Augenblick könnten weder eine rote
Bemalung der Wände des Gerichts
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