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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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besondere Können des Künstlers, der mich malte. Wie
ihr alle wißt, gibt es eigentlich kein Pferd, das mir in allem ganz genau
gleicht. Ich bin nur die Wiedergabe der Idee von einem Pferdebild, das ein
Maler in sich trägt.
    Ach, was für ein schönes Pferd!
sagen sie, wenn sie mich anschauen. Sie preisen im Grunde genommen nicht mich,
sondern den Malkünstler. Dabei sind doch alle Pferde verschieden voneinander,
und das sollte ein Maler als erster erkennen.
    Schaut einmal her, nicht einmal das
Organ eines Hengstes gleicht dem eines anderen. Habt keine Angst, ihr könnt es
von nahem betrachten, ja in eure Hand nehmen. Auch meine Gottesgabe ist eine
solche in ihrer ganz eigenen Form, mit ihren ganz eigenen Falten.
    Warum zeichnet die ganze Schar der
Illustratoren uns aus dem Gedächtnis, obwohl sich jedes einzelne Pferd, das die
Hand Allahs, des Allmächtigen und höchsten Schöpfers, erschafft, von allen anderen
unterscheidet? Warum sind sie stolz darauf, daß sie, ohne uns anzuschauen,
Tausende, Zehntausende von Pferden aufs Papier werfen können? Weil sie
versuchen, die Welt aus dem Blickwinkel Allahs abzubilden, und nicht die mit
eigenen Augen erblickte Welt, deshalb. Heißt das nicht, Vielgötterei treiben
und vorgeben – der Himmel sei davor! –, was Allah schaffen kann, das kann auch
ich? Sind nicht in Wahrheit all jene ohne Glauben und im Wettstreit mit Allah,
die sich nicht mit dem begnügen, was ihr Auge sieht, und tausendmal das Pferd
aus ihrer Phantasie – dies ist das von Allah erblickte Pferd – zeichnen und
behaupten, das beste Pferd könnten nur die blinden Illustratoren aus dem
Gedächtnis zeichnen?
    Die neuen Methoden der fränkischen
Meister in der Malerei zeugen nicht von Ungläubigkeit, ganz im Gegenteil, sie
entsprechen unserem Glauben am ehesten. Ich mag es ganz und gar nicht, daß die
fränkischen Ungläubigen kein Gefühl fürs Intime haben und ihre Weiber
bedenkenlos halbnackt spazierenführen, daß sie vom feinen Geschmack am Kaffee
und an schönen Knaben nichts verstehen, daß ihre Männer ohne Bärte herumlaufen
und dafür ihre Haare wie die Weiber lang wachsen lassen und – der Himmel verzeihe! – behaupten, der heilige Jesus sei gleichzeitig Allah. Ja, ich bin sogar böse
auf sie, und wenn mir einer von ihnen in die Nähe käme, stellt sich mir die
Frage, ob ich nicht einmal kräftig ausschlagen soll.
    Doch ich habe es genauso satt, von
den Illustratoren, die, ohne jemals in den Krieg zu ziehen, wie die Weiber zu
Hause hocken, stets falsch dargestellt zu werden. Sie zeichnen mich im Laufen,
beide Beine gleichzeitig nach vorn gestreckt. Kein einziges Pferd läuft so wie
ein Hase. Wenn eins meiner Vorderbeine erhoben ist, befindet sich das andere
dahinter. Und kein einziges Pferd hebt, wie es die Bilder von den Feldzügen
zeigen, das eine Vorderbein wie ein neugieriger Hund an, während das andere
fest auf dem Boden steht. Niemals heben die Pferde einer Reitertruppe dasselbe
Bein in demselben Augenblick, so wie man uns zum Beispiel als eines des anderen
Schatten zwanzigmal hintereinander nach dem gleichen Muster gemalt hat. Wenn
uns niemand beachtet, rupfen wir das Grün vor uns und fressen es, nie warten
wir so fein gerade aufgerichtet, wie man uns abbildet. Was ist so beschämend
daran, daß wir fressen, saufen, scheißen und schlafen? Warum haben sie Angst
davor, mein so wohlgeratenes Organ abzubilden? Besonders die Frauen und die
Kinder sind doch, wenn niemand dabei ist, begeistert von dem Anblick und
schauen ausgiebig hin. Was schadet das? Hat der Hodscha von Erzurum auch
dagegen etwas einzuwenden?
    Sie erzählten: Es gab einmal in
Schiras einen altersschwachen, immerfort argwöhnischen Schah. Und weil er
schreckliche Angst hatte, seine Feinde könnten ihn entthronen und seinen Sohn
an seine Stelle setzen, schickte er den Kronprinzen nicht als Wali nach
Isfahan, sondern hielt ihn im abgelegensten Zimmer des Palastes gefangen.
Nachdem der Prinz, der in einem Raum ohne Blick auf Hof oder Garten dreißig
Jahre lang in Gefangenschaft gelebt hatte und nur unter Büchern aufgewachsen
war, nach dem Ableben seines Vaters auf den Thron kam, sagte er sofort:
»Bringt mir doch endlich ein Pferd her. Ich habe stets sein Bild in den Büchern
gesehen und will unbedingt wissen, wie es ist!« Sie brachten ihm den
schönsten Grauschimmel des Palastes, und als der neue Schah die schlotartigen
Nüstern, ein unanständiges Hinterteil, die keineswegs wie auf den Bildern
glänzenden Haare und die

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