Pamuk, Orhan
ermordet hast. Heute früh.«
»Na gut«, sagte Hasan ruhig, »sag es
nur.«
»Man wird euch beide foltern!«
schrie ich. »Geht nicht zum Kadi. Wartet ab. Es wird sich alles aufklären.«
»Ich fürchte die Folter nicht«,
erklärte Hasan. »Ich habe sie zweimal überstanden und jedesmal gesehen, daß
nur die Folter den Unschuldigen vom Schuldigen scheidet. Die Verleumder sollten
die Folter fürchten. Ich werde auch jedem, dem Kadi, dem Obersten der
Janitscharen, dem Scheich-ül-Islam, von dem Buch des armen Oheim Efendi und
seinen Bildern berichten. Alle reden darüber. Was ist auf diesen Bildern?«
»Nichts«, antwortete Kara.
»Das heißt, du hast sie dir sofort
angesehen.«
»Der Oheim Efendi wünschte, daß ich
das Buch vollende.«
»Gut. Ich hoffe, sie werden uns
gemeinsam foltern.«
Beide schwiegen. Dann hörten wir
Schritte von dem leeren Garten. Ging er fort oder kam er auf uns zu? Wir
konnten ihn weder sehen noch erkennen, was er tat. Es war nicht der Mühe wert,
den Garten am Ende zwischen den Stacheln und Sträuchern und Brombeerbüschen zu
verlassen. Er konnte auch ungesehen entkommen, wenn er sich zwischen den Bäumen
vor uns durchschlängelte, doch wir hörten keine sich nähernden Fußtritte. Ich
rief einmal: »Hasan!«, doch es rührte sich nichts.
»Sei still«, sagte Kara.
Wir zitterten beide vor Kälte.
Deshalb warteten wir nicht länger, verschlossen Tor und Türen fest und gingen
ins Haus. Bevor ich wieder in das Bett kroch, das die Kinder so schön gewärmt
hatten, sah ich noch einmal nach meinem Vater. Kara aber saß vor den Bildern.
35
Ich, das Pferd
Laßt euch nicht davon täuschen, daß ich
jetzt friedlich und gelassen dastehe: In Wirklichkeit galoppiere ich seit
Jahrhunderten umher. Ich durchmesse die Ebenen, ziehe in die Kriege, trage die
traurigen Töchter der Schahs zu ihrer Vermählung, galoppiere gehetzt von der
Erzählung zur Chronik, von der Chronik zur Legende, von Buch zu Buch und Seite
um Seite. Weil ich in so vielen Geschichten und Märchen, in so vielen Büchern
und Kriegen mitgewirkt, unbeugsame Helden, legendäre Liebespaare und
Traumheere begleitet habe und mit unseren siegreichen Padischahs von einem
Krieg zum anderen galoppiert bin, wurde mein Bild selbstverständlich sehr, sehr
oft gemalt.
Was ist das für ein Gefühl, so oft
abgebildet zu werden?
Ich bin natürlich stolz darauf,
frage mich jedoch, ob ich es bin, was da ständig gemalt wird. Wie man aus
diesen Bildern ersieht, hat jeder eine andere Vorstellung von meiner Gestalt.
Dennoch spüre ich sehr stark, daß die Bilder untereinander durch eine
gemeinsame Note, etwas Einheitliches verbunden sind.
Als sich die Buchmalerfreunde vor
kurzem eine Geschichte erzählten, erfuhr ich folgendes: Der König der
fränkischen Ungläubigen zieht in Erwägung, die Tochter des Dogen von Venedig
zu heiraten. Heiraten, schön und gut, was aber, wenn der Venezianer arm und
seine Tochter häßlich ist? Also spricht er zu dem besten seiner Malkünstler:
Geh und male die Tochter des Dogen von Venedig und all ihren Besitz,
beweglichen und unbeweglichen. Die Venezianer kennen keine Abgeschlossenheit
innerhalb der Familie. Sie lassen den Maler nicht nur ihre Töchter, sondern auch
ihre Stuten und das Innere ihrer Paläste sehen. So malt der hochbegabte
Künstler ein solches Bild von jenem Mädchen, jenem Pferd, daß du sie auf den
ersten Blick erkennen kannst. Während der Frankenkönig die Bilder aus Venedig
im Hof seines Palastes betrachtet und überlegt: Soll ich sie heiraten oder
nicht?, versucht sein eigenes Pferd, plötzlich in Liebe entbrannt, die schöne
Stute auf dem Bild zu besteigen, so daß die Stallknechte das rasende Tier, das
mit seinem Riesenorgan Bild und Rahmen durchdringt, nur mit größter Mühe
bändigen können.
Nun sagen die Maler: Was den
fränkischen Hengst so wild machte, war nicht die Schönheit der venezianischen
Stute – sicher, sie war schön –, sondern es war die genaue Wiedergabe eines bestimmten
weiblichen Tieres, das man sich zum Vorbild genommen hatte. Ist es nun eine
Sünde, ein Bild so wie das jener Stute zu malen, als sei es das Bild einer
wirklichen Stute? Wie ihr seht, unterscheide ich mich in meinem jetzigen
Zustand nur äußerst wenig von anderen Pferdebildern.
Doch wer auf meine schöne Lende,
meine langen Beine, auf meine stolze Haltung achtet, versteht schon, daß ich
anders bin. Dieses Schöne an mir ist aber kein Hinweis auf meine Besonderheit
als Pferd, sondern auf das
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