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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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dann?« wollte Şevket wissen.
    »Wenn sie
herkommen, dann werden nicht nur wir, sondern auch sie traurig sein und weinen,
weil euer Großvater gestorben ist. Auf diese Art wird unser Schmerz geteilt und
leichter zu ertragen sein.«
    Şevket schrie: »Hast du meinen
Großvater umgebracht?«
    Und ich schrie zurück: »Wenn du
deiner Mutter Kummer machst, werde ich dich niemals liebgewinnen!«
    Wir schrien uns an wie zwei am Ufer
eines rauschenden Baches Stehende, nicht wie der Stiefvater und die Halbwaise. Şeküre
war unterdessen auf den Flur herausgekommen, rüttelte an dem hölzernen
Fensterladen und versuchte, ihn zu öffnen, damit man das Klagegeschrei im
Viertel besser hören konnte.
    Ich konnte nicht länger Zuschauer
sein und verließ das Zimmer. Wir setzten beide dem Flurfenster zu, kämpften mit
seinem Holz. Mit einem letzten Stoß ging der Laden auf und fiel in den Hof. Die
Sonne und die Kälte schlugen uns ins Gesicht, und wir waren einen Augenblick
wie benommen. Dann aber begann Şeküre laut zu schreien und bitterlich zu
weinen, als solle es die ganze Welt erfahren.
    Der Tod des Oheims, mit Hilfe des
Jammergeschreis dem ganzen Viertel kundgetan, wandelte sich dadurch für mich
in einen Schmerz, den ich nun viel quälender und entsetzlicher als bisher
empfand. Ob echt oder unecht, auch ich litt unter der Klage meiner Frau und
begann unverhofft mit ihr zu weinen. War es wirklich die Trauer, die mich zum
Weinen brachte, oder waren die Tränen vorgetäuscht, aus Furcht, man könnte
mich für den Tod des Oheims verantwortlich machen? Ich weiß es nicht.
    »Er ist von uns gegangen, ist tot,
tot, ach, mein Väterchen ist tooot«, jammerte Şeküre laut.
    Ich sang mit hörbaren Schluchzern
dieselbe Weise, doch was ich an Worten äußerte, war mir kaum bewußt.
Währenddessen sah ich mich selbst mit den Augen der Nachbarn des Viertels, die
uns aus ihren Häusern, durch die Türspalten und hinter den Fensterlatten beobachteten,
und meinte, genau das Richtige zu tun. Je mehr ich weinte, desto mehr wurde ich
von meinen Zweifeln an der Echtheit meines Schmerzes und meiner Tränen, von der
Besorgnis, des Mordes verdächtigt zu werden, ja sogar von der Furcht vor Hasan
und seinen Leuten befreit.
    Şeküre war mein, und das schien
ich mit Tränen und Wehgeschrei zu feiern. Ich zog meine laut lamentierende
Frau an mich und küßte liebevoll ihre Wangen, ohne die Kinder zu beachten, die
sich schluchzend herandrängten. Trotz meiner Tränen spürte ich, daß auf ihrer
Wange der gleiche Mandelbaumduft unserer Kindertage haftete wie an ihrem
weichen, warmen Bett.
    Danach traten wir mit den Kindern
gemeinsam an das Totenlager. Ich sprach ein »La ilahe illallah«, als
ginge es nicht um eine zwei Tage alte und recht aufdringlich riechende Leiche,
sondern um einen Todgeweihten, der dies vor dem Sterben wiederholte, damit es
seine letzten Worte seien und er ins Paradies eingehe. Wir taten so, als habe
der Oheim gesprochen, und lächelten auf einmal, während wir sein fast gänzlich
zerstörtes Gesicht und seinen zertrümmerten Schädel betrachteten. Gleichzeitig
öffnete ich meine Hände und sagte Yá-Sín, die sechsunddreißigste Sure, auf.
Alle schwiegen und hörten zu. Mit einem reinen Mulltuch, vorsorglich von Şeküre
mitgebracht, umwickelten wir behutsam den offenen Mund, schlossen noch einmal
liebevoll das heil gebliebene Auge, betteten den Körper ein wenig zur rechten
Seite und wandten das nicht mehr vorhandene Gesicht der Richtung nach Mekka
zu. Şeküre breitete ein sauberes Laken über ihren Vater.
    Es gefiel mir, daß die Kinder dem
ganzen Geschehen wie mit ärztlicher Neugier folgten, und die Stille nach dem
Wehgeschrei war höchst angenehm. Endlich fühlte ich mich wie ein richtiger Familienvater
mit Ehefrau, Kindern, Heim und Herd, und das war eine gesündere Vorstellung als
all diese Todesängste.
    Ich sammelte die Bilder auf, legte
sie Stück für Stück in ihre Mappe zurück, die ich an mich nahm, zog meinen
dicken Kaftan an und verließ eilig das Haus. Unter den Nachbarn, die unsere
Schreie vernommen hatten und eilig herankamen, vom Reiz des zu teilenden
Schmerzes angetrieben, waren auch ein altes Weiblein und sein rotznasiger
Enkel, der in allem offen zeigte, wie sehr ihn die Aussicht auf ein Vergnügen
freute; doch ich übersah sie geflissentlich und lief geradewegs zur Moschee
unseres Viertels.
    Das kleine, »Haus« genannte
Mauseloch des Imams war eine beschämend winzige Behausung neben dem pompösen
Bau

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