Pamuk, Orhan
einem Kissen und einem winzig kleinen Ameisenhaufen. Der vorlauteste
unter den Kalligraphen meines Alters hatte unterdessen sein eigenes Werkzeug
nur mit einem Schiffsmast und einer Tragestange gleichsetzen können, noch dazu
sehr anfängerhaft und ohne jedes Selbstvertrauen. Außerdem spielte ich noch auf
die Rohrstifte der alten Buchmaler an, die nicht mehr aufrecht standen, auf die
kirschroten Lippen der neuen Lehrbuben, auf die Meisterkalligraphen, die ihr
Geld zur Aufbewahrung (was auch ich tat) irgendwohin (wie wir sagten, in den
unanständigsten Winkel) stopften, auf den Wein, den ich trank, in den man
statt Rosenblätter Opium getan hatte, auf die letzten Meister von Täbris und
Schiras, auf den Kaffee von Aleppo, der sowieso mit Wein versetzt war, und auf
die Kalligraphen und die hübschen Knaben daselbst.
Manchmal meinte ich, eine der zwei
Seelen in mir habe die andere besiegt und hinter sich gelassen, und ich könne
schließlich jene stille, unliebsame Seite an mir vergessen. Dann erinnerte ich
mich an die Feste meiner Kindheit, die ich als ich selbst mit allen anderen
gemeinsam gefeiert hatte. Aber trotz all dieser Scherze, Küsse und Umarmungen
blieb diese Stille in meinem Innern, die mich mitten in der Menge auf
schmerzliche Weise einsam machte.
Wer hatte mir diesen schweigsamen,
mitleidlosen Geist eingegeben, der mich stets tadelte und von der Gemeinschaft
ausschloß? Der Satan? Doch die Stille in meinem Innern fand ihren Frieden allein
durch die lautersten, die Seele anrührenden Geschichten, nicht aber durch die
vom Satan erwünschten Frivolitäten.
Um diesen Frieden zu finden,
erzählte ich, vom Wein beflügelt, zwei Geschichten. Ein hochgewachsener
Kalligraphenlehrling mit blasser, doch rosig angehauchter Haut richtete seine
grünen Augen auf die meinen und hörte mir aufmerksam zu.
ZWEI GESCHICHTEN VON DER BLINDHEIT UND DEM STIL, VON
DEM ILLUSTRATOR ZUR LINDERUNG DER EINSAMKEIT SEINER SEELE ERZÄHLT
ELIF
Ein Pferdebild mit einem echten Pferd vor Augen zu
malen ist nicht die Erfindung der fränkischen Meister, wie angenommen, sondern
wurde zuerst .von dem großen Altmeister Cemalettin von Kazvin erdacht. Nach der
Eroberung Kazvins durch Hasan den Langen, den Chan vom Weißen Hammel, schloß
sich der bejahrte Altmeister Cemalettin nicht nur voll Eifer der
Buchmalerwerkstatt des Siegers an, sondern zog auch mit ihm ins Feld, weil er den
eigenen Worten zufolge die Chronologie des Chans mit solchen
Schlachtenszenen ausstatten wollte, die er mit eigenen Augen sah. So zog der
große Altmeister, der zweiundsechzig Jahre lang Pferde, Reiter und Kämpfe
dargestellt hatte, ohne je im Krieg gewesen zu sein, zum erstenmal ins Feld,
doch bevor er sehen konnte, wie die schweißbedeckten Pferde lärmend und
gewaltsam aufeinanderprallten, raubte ihm eine vom Feind abgeschossene
Kanonenkugel nicht nur das Augenlicht, sondern auch beide Hände. Der greise Meister,
der wie alle wahrhaft großen Künstler ohnehin die Blindheit wie eine Gnade
Allahs erwartet hatte, betrachtete auch die abgetrennten Hände nicht als einen
großen Verlust. Er vertrat die Meinung, das Gedächtnis des Illustratoren liege
nicht in seinen Händen, wie manch einer nachdrücklich behauptete, sondern im
Verstand und im Herzen, und jene eigentlichen Bilder und Landschaften, die
wirklich wahren und makellosen Pferde, die Allah uns zu sehen befohlen habe,
die sähe er jetzt, nachdem er blind geworden war, und um diese Wunder mit den
Liebhabern der Malkunst teilen zu können, fand er einen hochgewachsenen,
blassen Kalligraphenlehrling mit rosig angehauchter Haut und grünen Augen, den
er niederschreiben ließ, auf welche Weise er die in der Dunkelheit Allahs vor
seinem Auge erstehenden herrlichen Pferde gezeichnet hätte, wenn es ihm möglich
gewesen wäre, einen Pinsel in der Hand zu halten. Nach dem Tod des Meisters
faßte der schöne Kalligraph die Aufzeichnungen über das Malen der
dreihundertdrei Pferde, deren jedes beim linken Vorderfuß begonnen wurde, in
den drei Bänden Die Darstellung der Pferde, Das Dahinströmen der Pferde, Die
Liebe der Pferde zusammen, welche eine Zeitlang in dem Herrschaftsgebiet
derer vom Weißen Hammel sehr gefragt und beliebt waren. Sie erschienen
verschiedentlich als neue Schriften oder Nachahmungen, manche Illustratoren,
Lehrlinge und Schüler lernten sie auswendig, sie wurden als Lehrbuch der
Anwendung benutzt und gerieten in Vergessenheit, nachdem der Staat Hasans des
Langen vom Weißen Hammel vernichtet
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