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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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bin nicht die Quelle all des Bösen, all der Sünden auf
der Welt. Sehr viele Menschen begehen Sünden aus Gier, Lüsternheit,
Willensschwäche, Gemeinheit und meistens auch aus Dummheit, ohne daß ich sie
aufhetze, überrede oder ihnen etwas einflüstere. So unsinnig, wie das Bemühen
manch eines gelehrten Mystikers ist, mich von allen Bosheiten reinzuwaschen,
so sehr widerspricht auch jene Annahme dem Koran, daß alles Böse von mir komme.
Ich verführe nicht jeden Obsthändler zum Betrug an seinem Kunden mit faulen
Äpfeln, auch nicht jedes Kind, das lügt, oder jeden, der schmeichelt, oder
jeden Greis, der unanständige Tagträume hat, oder jeden Knaben, der onaniert.
Ja, bei den beiden letzteren findet der Allmächtige nicht einmal etwas Böses,
was an mich erinnern könnte. Selbstverständlich gebe ich mir alle Mühe, damit
die Menschen schwere Sünden begehen, doch einige Hodschas schreiben, auch wer
mit offenem Munde gähne, wer niese, ja sogar wer furze, sei von mir dazu
verführt worden – was bedeutet, daß sie mich nicht im geringsten verstanden
haben.
    Nun könntet ihr sagen: Sollen sie's
nicht verstehen, um so leichter kannst du sie verführen. Das ist wahr. Doch
ich muß darauf hinweisen, daß auch ich meinen Stolz habe, was ja auch der
Grund für meine Entzweiung mit Allah dem Allmächtigen war. Können mir die hier
anwesenden Buchmalerbrüder erklären, warum sie mich immer als eine
verschrobene, gehörnte und geschwänzte, als scheußliche Kreatur mit
fleckenübersätem Gesicht dargestellt haben, obwohl ich doch in jede Verkleidung
schlüpfen kann und es in Tausenden von Büchern wer weiß wie oft geschrieben
steht, daß ich besonders als lusterweckende schöne Frau den Weg der fest im
Glauben Stehenden gekreuzt habe?
    Womit wir bei dem eigentlichen
Thema, der Illustration, sind. Eine die Straßen Istanbuls füllende Menge, die
von einem Prediger aufgehetzt wird, dessen Namen ich nicht erwähnen werde,
damit er euch später nicht Kummer mache, soll verbreiten, es verstoße gegen Allahs
Gebot, den Gebetsruf melodisch zu singen, in den Sektenunterkünften dicht
beieinanderhockend zu rezitieren und dabei zur Musik der Instrumente in
Verzückung zu geraten und auch Kaffee zu trinken. Einige Illustratoren unter
uns, die jenen Prediger und seine Anhängerschaft fürchten, sollen, wie ich
hörte, gesagt haben, ich steckte hinter der Sache mit dem Malen nach der
fränkischen Methode. Ich habe jahrhundertelang zahllose Verleumdungen hinnehmen
müssen. Keine davon war jemals so weit von der Wahrheit entfernt.
    Laßt uns dorthin zurückkehren, wo
alles begann. Weil sich jeder hartnäckig nur daran erinnert, wie ich Eva mit
der verbotenen Frucht verführte, vergißt er diesen Anfang. Nein, es ist auch
nicht jener Augenblick, als Allah der
Allmächtige mich des Hochmuts bezichtigte. Der Anfang aller Dinge war Seine
Forderung, wir sollten uns niederwerfen vor dem Menschen, den Er uns zeigte,
und mein durchaus richtiger Entschluß,
    MICH NICHT
VOR DEM MENSCHEN NIEDERZUWERFEN,
    während alle anderen Engel seinem Gebot
gehorchten. Meint ihr, es sei gerecht, von mir, der ich aus dem Feuer
geschaffen wurde, zu verlangen, daß ich
    DEM MENSCHEN EHRE ERWEISE,
    der aus einem niederen Stoff, dem Lehm, entstand?
Prüft euer Gewissen, meine Brüder! Nun gut, ich weiß, was ihr denkt. Ihr befürchtet,
daß nichts hier unter uns bleiben, Er alles hören und eines Tages von euch
Rechenschaft fordern wird. Dann frage ich euch nicht, warum Er euch das
Gewissen gegeben hat, gebe eurer Befürchtung recht und vergesse meine Frage
und diesen Unterschied von Feuer und Lehm. Doch da ist etwas, was ich nie
vergessen, sondern mit Stolz in Erinnerung behalten werde:
    ICH WARF MICH NICHT VOR DEM MENSCHEN
NIEDER.
    Gerade dies aber tun die neuen fränkischen
Meister. Es genügt ihnen nicht, die Augenfarbe ihrer Herren, der Priester, der
reichen Kaufleute, ja sogar ihrer Frauen wiederzugeben und alles zu zeigen, wie
es ist, vom Gewebe der Haut, dem unvergleichlichen Schwung der Lippen, dem
hübschen Schatten zwischen den Brüsten, den Falten auf der Stirn, dem Ring am
Finger bis hin zu den eklen, aus den Ohren quellenden Haaren, nein, sie setzen
ihre Figuren in der Mitte des Gemäldes ein und hängen sie wie Götzenbilder zum
Verehren an die Wand, als sei der Mensch ein Wesen, vor dem man sich beugen
müsse. Ist der Mensch ein so bedeutendes Geschöpf, daß man sogar seinen
Schatten in allen Einzelheiten malen muß? Wenn man die Häuser

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