Pamuk, Orhan
und hatte dennoch
große Befürchtungen, als ich das Pferd zeichnete. Wäre es möglich, daß ich auf
dem Pferdebild für den Oheim etwas angebracht hatte, was mich verraten könnte?
Ich mußte jetzt ein ganz anderes Pferd malen. Diesmal dachte ich an ganz andere
Dinge, »hielt mich zurück« und war nicht ich selbst.
Doch wer bin ich eigentlich? Bin ich
jemand, der seine Wundergaben verbarg, um sich dem Stil der Buchmalerwerkstatt
anzupassen? Oder jemand, der das ihm innewohnende Pferd eines Tages überlegen
darstellen würde?
Plötzlich spürte ich voller Furcht
das Dasein dieses Illustrators in meinem Innern. Es war, als ob mich in mir
noch eine andere Seele beobachte, und ich schämte mich.
Da ich sogleich erkannt hatte, daß
ich es daheim nicht aushalten würde, floh ich aus dem Haus und ging raschen
Schrittes durch die dunklen Straßen. Wie der Scheich Osman Baba in seinem Buch Das
Leben der Heiligen schrieb, muß der wahre Derwisch sein ganzes Leben lang
wandern und darf sich an keinem Ort für längere Zeit aufhalten, um den inneren
Teufel hinter sich zu lassen; doch nachdem der Scheich siebenundsechzig Jahre
lang von Stadt zu Stadt gewandert war, hatte ihn die Flucht vor dem Teufel
ermüdet, und er ergab sich ihm. Dies ist das Alter, in dem die
Meisterillustratoren die Blindheit, die Dunkelheit Allahs erlangen, ohne es zu
wollen einen Stil erwerben und gleichzeitig von allen Anzeichen eines Stils
befreit sind.
Ich ging in Beyazıt über den
Hühnermarkt und über den leeren Platz des Sklavenmarktes, genoß den schönen
Duft aus den Suppen- und Reispuddingläden und streifte umher, als suchte ich
etwas. An geschlossenen Barbierstuben kam ich vorbei, an den Büglern, an
einem alten Bäcker, der sein Geld zählte und mich verblüfft anschaute, an einem
Krämerladen, aus dem es nach Essiggemüse und gesalzenem Fisch duftete, und da
mein Auge allein von den Farben angezogen wurde, betrat ich den Laden eines
Kräuter- und Gewürzhändlers, der irgend etwas abwog, und bestaunte unter dem
Licht der Lampe, als blickte ich einen geliebten Menschen voller Leidenschaft
an, die Säcke voll Kaffee, Ingwer und Zimt, die Schachteln voll buntem Mastix,
die Häufchen von Anis, gelbem und schwarzem Kümmel und Safran, deren Duft mir
vom Ladentisch her in die Nase stieg. Manchmal möchte ich alles in den Mund
stecken, möchte alles auf einem leeren Blatt darstellen.
Ich betrat ein Lokal, in dem ich mir
während der letzten Woche bereits zweimal den Magen gefüllt hatte und das ich
für mich das »Speisehaus der Kummerbeladenen« nannte – eigentlich müßte ich
»der Elenden« sagen. Seine Türen stehen dem, der es kennt, bis Mitternacht
offen. Im Innern befanden sich ein paar arme Kerle, wie Galgenvögel oder
Pferdediebe gekleidet, auch einige seltsame Einzelgänger, die in hoffnungsloser
Verzweiflung dieser Welt entglitten und gleich den Opiumrauchern zu anderen
Paradiesen aufgebrochen waren, zwei Bettler, denen es schwerfiel, den Regeln
der Zunft zu gehorchen, und ein Herr, der abseits von diesem Gewimmel in einer
Ecke hockte. Ich grüßte liebenswürdig den Koch aus Aleppo, ließ mir
fleischgefüllte Kohlrouladen auf den Teller häufen und mit Joghurt bedecken,
streute eine Handvoll roten Pfeffer darüber und setzte mich neben den jungen
Herrn.
Jede Nacht überkommt mich eine Traurigkeit,
ein tiefer Kummer. Ach, Brüder, Brüder, wir werden vergiftet, wir verfaulen,
sterben, wir werden lebendig aufgezehrt, wir versinken bis zum Hals im Elend
... Manchmal sehe ich ihn nachts in meinen Träumen aus dem Brunnen steigen und
mich verfolgen, aber wir haben ihn tief versenkt und mit viel Erde bedeckt; er
kann nicht mehr aufstehen aus dem Grab.
War es ein mir von Allah gesandtes
Zeichen, daß der junge Herr, von dem ich annahm, er habe seine Nase tief in die
Suppenschüssel gesteckt und die Welt vergessen, ein Gespräch begann? Ja, sagte
ich, sie haben das Fleisch gerade richtig zerkleinert, meine Kohlrouladen sind
sehr schmackhaft. Ich befragte ihn, und er ließ mich wissen, daß er frisch aus
der Medrese entlassen und zwanzig Jahre alt sei und nun unter Arifi Pascha als
Schreiber arbeite. Warum er zu dieser Nachtzeit nicht auf des Paschas Anwesen,
in der Moschee oder zu Hause im Bett bei seiner Frau war, sondern hier im
Speisehaus der ledigen Gauner, fragte ich nicht. Er wollte wissen, woher ich
kam, wer ich war. Ich dachte kurz nach und sagte dann: »Mein Name ist Behzat.
Ich komme aus Herat, aus Täbris. Ich habe die
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