Pamuk, Orhan
durch die Straßen.
Die Kälte in den Räumen der
Schatzkammer war mir so tief ins Mark gedrungen, daß ich meinte, eine laue
Vorfrühlingsluft habe sich auf die Straßen der Stadt gesenkt. Während ich auf
dem Alten Markt an den Läden der Krämer, Barbiere, Kräuter-, Grünzeug- und
Holzhändler vorbeikam, die nach und nach geschlossen wurden, ging ich
langsamer und schaute mir die Fässer, ihre Abdecktücher, die Mohrrüben und die
Tongefäße im Lampenlicht der warmen Läden genauer an.
Die Straße meines Oheims – ich
konnte noch nicht einmal »Şeküres Straße« sagen, geschweige denn, »die
meine« – schien mir nach den vergangenen zwei Tagen noch fremder, noch ferner
zu sein. Doch die Freude darüber, daß ich heil und gesund und mit der Aussicht
zu meiner Şeküre kam, heute nacht das Bett mit meiner Geliebten zu teilen,
und daß auch der Mörder als gefunden betrachtet werden konnte, brachte mich
der ganzen Welt nahe, und ich mußte sehr an mich halten, um nicht wie ein Bauer
vom anderen Flußufer her zu schreien, als ich den Granatapfelbaum und die geschlossenen,
wiederhergerichteten Fensterläden erblickte. Denn sobald ich Şeküre sah,
wollte ich ihr als erstes zurufen: »Man weiß jetzt, wer der verfluchte Mörder
ist!«
Ich öffnete das Hoftor. Kam es vom
Knarren des Tors oder von der Unbekümmertheit, mit welcher der Spatz aus dem
Eimer am Brunnen trank, oder lag es an der Dunkelheit des Hauses – ich weiß es
nicht, doch der in den langen Jahren der Einsamkeit erworbene Wolfsinstinkt
verriet mir sofort, daß niemand da war. Auch wenn man schmerzlich erkennt, daß
man vollkommen allein ist, öffnet man trotzdem alle Türen, Schränke, ja selbst
Topfdeckel und schließt sie wieder. Das tat auch ich. Sogar in die Truhen
schaute ich hinein.
Das einzige, was ich während dieser
langen Stille hörte, war nur das dumpfe Pochen meines rasenden Herzens. Als
ich, einem Greis gleich, der mit allem abschließt, aus der Tiefe der Truhe im
äußersten Winkel mein Schwert hervorgeholt und mich damit umgürtet hatte,
wurde ich auf einmal ruhiger. In all den Jahren, da ich mit dem Rohrstift tätig
war, hatte mir mein Schwert mit dem Elfenbeinknauf stets die innere Ruhe und
das Gleichgewicht (auch beim Gehen) verliehen. Bücher tragen zum Elend der
Menschen nur etwas Tieferes bei, das wir für Trost halten.
Ich ging hinunter in den Hof. Der
Spatz war fort. Und wie man ein sinkendes Schiff verläßt, so überließ ich das
Haus dem Schweigen der einfallenden Dunkelheit und ging hinaus.
Lauf, sagte mir mein Herz jetzt mit
stärkerem Selbstvertrauen, lauf und finde sie! Ich lief. Dennoch verlangsamte
ich meine Schritte dort, wo Gedränge herrschte, in den Moscheehöfen, die ich
als Abkürzung nahm, und zwischen den zahlreicher werdenden Hundemeuten, die
sich aus reinem Vergnügen an meine Fersen hefteten.
53
Mein Name ist Ester
Ich kochte gerade Linsensuppe für das
Abendessen, als Nesim verkündete: »Da ist einer an der Tür.« »Laß die Suppe
nicht anbrennen«, sagte ich, drückte den Löffel in seine alte Hand, hielt sie
umklammert und rührte, seine Hand in meiner, die Suppe im Topf noch zweimal
um. Wenn ich's nicht vormache, könnte er den Löffel stundenlang in die Suppe
halten, ohne umzurühren.
Als ich Kara vor der Tür sah, hatte
ich nur Mitleid mit ihm. Der Ausdruck auf seinem Gesicht machte mir angst, so
daß ich lieber nicht fragte, was geschehen war.
»Bleib draußen«, sagte ich. »Muß
mich nur schnell umziehen, dann komme ich mit.«
Ich streifte mir meine rosa und
gelben Kleider über, die ich trug, wenn ich zu den Lustbarkeiten im Ramazan, zu
Festessen bei reichen Leuten oder zu ausgedehnten Hochzeiten eingeladen war,
und nahm mein Feiertagsbündel zur Hand. »Meine Suppe esse ich nachher, wenn ich
zurückkomme«, erklärte ich meinem armen Nesim.
Wir waren kaum eine Straße
weitergegangen durch unser Judenviertel, wo die ärmlichen Töpfe und die Kamine
nur schwerlich zum Dampfen kommen, da sagte ich zu ihm: »Şeküres erster
Ehemann soll aus dem Krieg wiedergekommen sein.«
Kara schwieg, bis wir das Viertel
ganz hinter uns hatten. Sein Gesicht war aschfahl wie der einfallende Abend.
»Wo sind sie?« fragte er
schließlich.
Daraus entnahm ich, daß Şeküre
und die Kinder nicht zu Hause waren. »Sie sind daheim«, erklärte ich. Weil sich
aber dieses Wort auf Şeküres altes Zuhause bezog, merkte ich sofort, daß
es Kara tief verletzen mußte, und ließ mit einem Zusatz die Tür
Weitere Kostenlose Bücher