Pamuk, Orhan
Schatzkammer, sobald das Tor geöffnet wird.«
»Wie denn das?« rief er aus. »Uns
bleibt noch eine Nacht und ein Morgen. Wie rasch sind deine Augen gesättigt von
den schönsten Bildern der Welt, die es jemals gab!«
Er hatte die Augen von der vor ihm
liegenden Seite nicht erhoben, als er dies sagte, doch die Farbe seiner
Pupillen wurde offensichtlich blasser, was bewies, daß er allmählich blind
wurde.
»Wir haben das Rätsel der
Pferdenüstern gelöst«, erklärte ich mutig.
»Ha!« sagte er. »Ja! Der Rest bleibt
unserem Padischah und dem Schatzmeister überlassen. Vielleicht werden sie uns
allen verzeihen.«
Würde er ihnen Storch als den Mörder
nennen? Ich fragte ihn nicht danach, aus Furcht davor, daß er mich nicht gehen
lassen würde. Noch schlimmer jedoch war, daß ich von Zeit zu Zeit glaubte, er
könne mich beschuldigen.
»Die Federbuschnadel, mit der sich
Behzat geblendet hat, ist verschwunden«, sagte er.
»Wahrscheinlich hat sie der Zwerg
wieder an ihren Platz gelegt«, meinte ich. »Wie schön die Seite ist, die Ihr
betrachtet!«
Sein Gesicht leuchtete auf wie das
eines Kindes, er lächelte. »Es ist Hüsrev, der nachts auf seinem Pferd unter Şirins
Schlößchen in Liebe entbrannt wartet«, erklärte er. »Im Stil der alten Herater
Meister.«
Er schaute auf das Bild, als könne
er es sehen, doch er hatte nicht einmal das Vergrößerungsglas zur Hand
genommen.
»Siehst du die Pracht der Blätter an
den Bäumen, der Frühlingsblumen und der Sterne, die im Dunkel der Nacht wie
von innen her leuchten und einzeln erscheinen, erkennst du die anspruchslose
Geduld in der Ornamentierung der Wand, die Vornehmheit im Gebrauch des
Goldblatts und die fein ausgewogene Anordnung des ganzen Bildes? Das Pferd des
stattlichen Hüsrev ist edel und zierlich wie eine Frau. Seine geliebte Şirin
steht am Fenster über ihm, den Nacken gebeugt, doch mit stolzem Gesicht. Es
ist, als ob die Liebenden dort in dem Licht, das aus den Farben, dem Gewebe
und der Haut des von dem Maler so zart und leidenschaftlich geschaffenen Bildes
hervorleuchtet, für immer verharren würden. Wie du siehst, sind ihre Gesichter
mehr oder weniger einander zugeneigt, ihre Körper jedoch zur Hälfte uns
zugewandt. Denn sie wissen, daß sie sich in einem Bild befinden und wir sie
sehen können. Aus diesem Grund versuchen sie nicht, genau wie die Dinge zu
sein, die wir ständig vor Augen haben. Im Gegenteil, sie deuten an, daß sie den
Erinnerungen Allahs entsprungen sind. Deshalb ist die Zeit dort in jenem Bild
stehengeblieben. Wie rasch die Handlung der Geschichte auch verlaufen mag, von
der das Bild erzählt, die beiden werden bis ans Ende der Tage wie wohlerzogene,
scheue Mädchen dort verbleiben, ohne ihren Händen, Armen, zarten Leibern, ja
selbst ihren Augen eine heftige Bewegung zu gestatten. Und alles wird mit ihnen
gemeinsam in der dunkelblauen Nacht erstarren: Der Vogel flattert sowohl, den
rasenden Herzen der Liebenden gleich, am Himmel in der Dunkelheit zwischen den
Sternen umher, verharrt aber auch dort in diesem unvergleichlichen Augenblick
wie an den Himmel genagelt bis in alle Ewigkeit. Die alten Meister von Herat
merkten, wann sich die samtige Dunkelheit Allahs wie ein Vorhang über ihre
Augen senkte, und sie wußten auch sehr wohl, daß ihre Seelen, wenn sie Tage, ja
Wochen bewegungslos auf ein solches Bild starrten und blind wurden, am Ende mit
der Ewigkeit dieses Bildes verschmelzen würden.«
Als sich beim Ruf zum Abendgebet das
Tor der Schatzkammer wie immer feierlich mit vielen Teilnehmern öffnete,
blickte Meister Osman nach wie vor ganz gesammelt auf die vor ihm liegende
Seite, auf den Vogel, der unbeweglich am Himmel hing. Wer aber die blasse Farbe
seiner Pupillen bemerkte, der begriff, daß der Meister die herrliche Seite ganz
merkwürdig anschaute, so wie es uns auffällt, wenn manche Blinde sich dem
Teller, der vor ihnen steht, von der falschen Seite her nähern.
Da mich die Tschausche der
Schatzkammer-Abteilung nicht besonders gründlich durchsuchten, als sie
erfuhren, daß Meister Osman in der Schatzkammer bleiben würde und Cesmi Agha
an der Tür, drangen sie nicht bis zu der Federbuschnadel vor, die in meinem
Unterzeug verborgen war. Sowie ich aus dem Hof des Sarays auf die Istanbuler
Straßen hinauskam, schlüpfte ich in einen Durchgang, holte das schreckliche
Ding, mit dem sich der legendäre Behzat geblendet hatte, aus meiner Unterhose
hervor und steckte es in meine Schärpe. Dann lief ich rasch
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