Pamuk, Orhan
weiß, du wirst nicht fragen, warum wir bei keinem anderen
der Pferde, die Olive über Jahre malte, auf diese Art von Nüstern gestoßen
sind. Weil ich schon sagte, daß manchmal eine Einzelheit, der Flügel eines
Vogels oder die Art, wie ein Blatt am Baum hängt, vom Illustrator wegen der
Launen und der Härte seines Meisters oder der besonderen Vorlieben der
Buchmalerwerkstatt und des Padischahs nie zu Papier gebracht wird, obwohl sie,
vom Meister zum Lehrling weitergereicht, über Generationen hinweg im Gedächtnis
bewahrt bleibt. Das heißt, dies ist das Pferd, welches der liebe Olive in
seiner Kindheit unmittelbar von den persischen Meistern erlernt und niemals vergessen
hat. Und Allah hat ein grausames Spiel mit mir getrieben, als er dieses Pferd
für das Buch des törichten Oheims zum Vorschein kommen ließ. Haben wir nicht
alle die alten Herater Meister genügend zum Vorbild genommen? Haben wir nicht
an die Wunderwerke der alten Herater Meister gedacht, wenn es um das schöne
Bild ging, genauso, wie der turkmenische Künstler nur eine Chinesin malen
kann, wenn er sich das Antlitz einer schönen Frau vorstellt? Wir alle
bewundern die alten Meister von Herat. Hinter allen großen Illustratoren steht
Behzats Herat, und hinter Herat stehen die mongolischen Reiter und die
Chinesen. Warum sollte Olive, der den Herater Legenden so fest verbunden ist,
den armen Fein Efendi umbringen, der den alten Bräuchen mehr als er, ja
geradezu blind ergeben war?«
»Wer also?« fragte ich.
»Schmetterling?«
»Storch«, antwortete er. »Das sagt
mir mein Herz, weil ich seinen Ehrgeiz, seinen blindwütigen Fleiß kenne. Hör
zu: Höchstwahrscheinlich hat der arme Fein Efendi beim Illuminieren begriffen,
daß im Buch deines Oheims, das die Methoden der Franken nachahmte, Unglaube
und Ketzerei enthalten waren, und fürchtete sich davor. Einerseits war er
einfältig genug, um dem Geschwafel des verbohrten Predigers von Erzurum sein
Ohr zu leihen – die Vergoldermeister sind leider, obwohl sie Allah näherstehen
als die Illustratoren, langweilig und dumm –, andererseits wußte er auch, daß
es bei dem Buch deines törichten Oheims um einen wichtigen, geheimen Auftrag
des Sultans ging, so daß seine Ängste und Zweifel miteinander rangen: Sollte er
seinem Padischah glauben oder dem Prediger von Erzurum? Zu jeder anderen Zeit
wäre dieses arme Kind, das ich doch so gut kenne, natürlich zu mir, seinem
Meister, gekommen und hätte mich in die Sorgen eingeweiht, die ihn innerlich
zerfraßen. Doch weil sogar er mit seinem Spatzenhirn begriffen hatte, daß die
Vergoldungsarbeiten für das Buch deines Oheims, des Frankenimitators, Verrat an
mir, an der Buchmalerwerkstatt bedeutete, suchte er nach einem anderen, und er
teilte seinen Kummer dem schlauen, ehrgeizigen Storch mit, weil er dessen
Talent bewunderte und deshalb dem Irrtum verfiel, auch seine Klugheit und
Moralvorstellungen zu bewundern. Ich habe oft beobachtet, wie Storch sich die
Bewunderung des Fein Efendi zunutze machte. Aus welchem Grund auch immer die
beiden sich stritten, Storch brachte den anderen um. Und weil Fein Efendi seine
Befürchtungen vorher den Anhängern des Erzurumers eröffnet hatte, wollten sie
ihre Stärke durch Rache beweisen und töteten deinen Oheim, den Frankenverehrer,
den sie für den Tod ihres Freundes verantwortlich machten. Ich kann nicht
behaupten, deshalb tiefe Trauer zu empfinden. Dein Oheim hatte vor Jahren
unseren Sultan überredet, sein Bildnis von einem Venezianer – Sebastiano war
sein Name – im fränkischen Stil wie das eines Königs der Ungläubigen malen zu
lassen. Dann legte er mir dieses schändliche Bild als Modell vor, verletzte
mich tief in meiner Ehre und zwang mich, es anzuschauen und aufs genaueste zu
kopieren, und aus Furcht vor unserem Padischah habe ich mich entehrt und jenes
auf die Art der Ungläubigen gemalte Bild kopiert. Hätte ich das nicht getan,
würde ich heute vielleicht den Tod des Oheims betrauern und mich sehr darum bemühen,
seinen gemeinen Mörder aufspüren zu lassen. Doch meine Sorge gilt nicht deinem
Oheim, sondern meiner Werkstatt. Meine Buchmalermeister, deren jeden ich mehr
als mein eigenes Kind geliebt und in fünfundzwanzig Jahren mit zärtlicher
Besorgnis herangezogen habe, sind deines Oheims wegen an mir und unserer
ganzen Maltradition zum Verräter geworden und haben begonnen, voll Eifer die
fränkischen Meister zu imitieren, weil unser Sultan es jetzt angeblich so will.
All diese Ehrlosen sind es
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