Pamuk, Orhan
zur Hoffnung
einen Spaltbreit offen: »Wahrscheinlich.«
»Hast du den Ehemann gesehen, der
aus dem Krieg zurückkam?« fragte er und schaute mir dabei in die Augen.
»Ich habe weder ihn gesehen noch daß
Şeküre das Haus verlassen hat.«
»Woher weißt du dann, daß sie das
Haus verlassen hat?«
»Von deinem Gesichtsausdruck.«
»Erzähle mir alles«, forderte er
entschlossen.
Um eine Ester sein zu können, die
mit dem Auge stets an allen Fenstern und dem Ohr stets am Boden blieb, damit
sie imstande war, zahllosen verträumten Mädchen einen Mann zu finden und mit
Leichtigkeit an die Türen zahlloser glückloser Häuser zu klopfen, durfte diese
Ester niemals alles erzählen, doch Kara war so in seine Sorgen vertieft, daß er
es nie verstehen würde.
»Hasan, der Bruder von Şeküres
erstem Ehemann«, sagte ich, »soll euer Haus« (ich sah, wie's ihm gefiel, daß
ich »euer Haus« sagte) »aufgesucht und Şevket erzählt haben, daß sein
Vater auf dem Heimweg sei, um die Zeit des Nachmittagsgebets zu Hause ankommen
und, wenn er ihn, die Mutter und den Bruder nicht sähe, sehr bestürzt sein
würde. Şevket muß es seiner Mutter gesagt haben, doch Şeküre war
vorsichtig und konnte keinen Entschluß fassen. Kurz vor dem Nachmittagsgebet
ist Şevket dann von zu Hause weggelaufen und bei seinem Onkel Hasan und
seinem Großvater untergekrochen.«
»Wie erfährst du all diese Dinge?«
»Hat Şeküre dir nicht von dem
Ränkespiel erzählt, das Hasan während der letzten zwei Jahre getrieben hat, um
sie in das alte Haus zurückzuholen? Hasan hat eine Zeitlang durch mich Briefe
an Şeküre geschickt.«
»Hat Şeküre ihm jemals
geantwortet?«
»Ich kenne jede Art von Frauen in
Istanbul«, erklärte ich stolz. »Keine ist ihrem Heim, ihrem Mann und ihrer
Tugend so treu wie Şeküre!«
»Jetzt bin ich aber ihr Mann.«
In seiner Stimme lag jene männliche
Unsicherheit, die mich stets betrübte. Wann immer sich Şeküre einer Seite
zuwandte, begann auf der anderen der Zusammenbruch.
»Hasan hat auf einem Stück Papier
geschrieben, Şevket sei nach Hause gekommen, um auf seinen Vater zu
warten, er sei sehr unglücklich über seinen neuen Vater, diesen falschen
Ehemann, den seine Mutter in einer zweifelhaften Zeremonie geheiratet habe, und
er würde nie mehr zurückgehen. Er gab mir dieses Papier, damit ich es Şeküre
brachte.«
»Was tat Şeküre?«
»Sie hat die ganze Nacht allein mit
dem armen kleinen Orhan auf dich gewartet.«
»Und Hayriye?«
»Hayriye würde deine schöne Ehefrau
am liebsten erwürgen und wartet seit Jahren auf eine Gelegenheit. Deswegen ist
sie zu deinem seligen Oheim ins Bett gekrochen. Als Hasan klar wurde, daß Şeküre
die Nacht mutterseelenallein in der Angst vor dem Mörder und den Gespenstern
verbracht hat, ließ er Şeküre durch mich noch einen Brief überbringen.«
»Was hat er geschrieben?«
»Diese arme Ester kann, Allah sei
Dank, nicht schreiben und lesen und antwortet zornigen Efendis und
aufgebrachten Vätern, wenn sie diese Frage stellen: Den Brief kann ich nicht
lesen, nur das Gesicht des schönen Mädchens, während es den Brief liest.«
»Und was hast du darin gelesen?«
»Hilflosigkeit!«
Lange Zeit sprachen wir nicht. Auf
dem Dach einer kleinen griechischen Kirche sah ich eine Eule sitzen, die dort
auf die Nacht wartete. Rotznäsige Straßenkinder sah ich, die sich über meine
Kleider und mein Bündel lustig machten. Und ich sah einen räudigen Hund, der
sich heftig kratzte, unter den Zypressen eines Friedhofs hervorkommen und
fröhlich auf die Straße springen, weil es Nacht wurde.
»Nicht so schnell!« rief ich Kara
schließlich zu. »Ich kann diese Abhänge nicht so schnell hochsteigen wie du.
Wohin bringst du mich mit meinem Bündel?«
»Bevor du mich zu Hasans Haus
führst, bringe ich dich zu freigebigen jungen Helden und lasse dich dein
Bündel öffnen, damit sie dir geblümte Taschentücher, Seidenschärpen und mit
Silberfaden bestickte Geldbeutel abkaufen.«
Daß Kara in dieser elenden Lage noch
Scherze machen konnte, war ein gutes Zeichen, doch ich erkannte auch sofort die
ernste Seite an seinem Scherz: »Auch wenn du eine Armee zusammenholst, werde
ich dich nicht zu Hasans Haus bringen«, erklärte ich. »Streit und Schlägerei
versetzen mich in Todesangst.«
»Wenn du wie immer die kluge Ester
bist, wird es weder Streit noch Schlägerei geben«, sagte er.
Wir durchquerten Aksaray und
gelangten auf die Straße, die weiter nach hinten zu den
Weitere Kostenlose Bücher